Liebe Gemeinde,
wenn ich mit meinem Sohn seine Kinderbibel anschaue, dann würde ich manchmal die Seiten von Gefangennahme über Verhör, Geißelung und Kreuzigung am liebsten überblättern. Das ist doch zu grausam für ein kleines Kind und überhaupt, wie soll ich ihm das erklären? Das kann er doch noch gar nicht verstehen.
Können wir es verstehen? Warum musste Jesus für uns leiden und sterben? Hätte Gott das nicht auch anders regeln können? Unsere Sünden einfach wegwischen? Wozu braucht es ein Opfer? Warum musste Jesus so grausam am Kreuz sterben?
Wir wollen heute eine Antwort auf diese Fragen mit Hilfe unseres Predigttextes suchen und damit versuchen zu verstehen, was es mit Karfreitag eigentlich auf sich hat. Der Predigttext für heute steht im Jesajabuch und ist das sogenannte vierte Gottesknechtslied.
„13Seht her, mein Knecht wird Erfolg haben. Er wird in die allerhöchste Stellung erhoben. 14Viele haben sich entsetzt von ihm abgewandt, zur Unkenntlichkeit entstellt sah er aus. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen. 15Doch dann werden viele Völker über ihn staunen, und Königen wird es die Sprache verschlagen. Denn sie sehen, was ihnen keiner je erzählt hat. Sie erleben, was sie noch nie gehört haben.„
Jesaja 52, 13-15
„1Wer hätte geglaubt, was uns zu Ohren gekommen ist? Wer hätte für möglich gehalten, dass der Herr an einem solchen Menschen seine Macht zeigt? 2Er wuchs vor seinen Augen auf wie ein Spross, wie ein Trieb aus trockenem Boden. Er hatte keine Gestalt, die schön anzusehen war. Sein Anblick war keine Freude für uns. 3Er wurde von den Leuten verachtet und gemieden. Schmerzen und Krankheit waren ihm wohl vertraut. Er war einer, vor dem man das Gesicht verhüllt. Alle haben ihn verachtet, auch wir wollten nichts von ihm wissen. 4In Wahrheit hat er unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich genommen. Wir aber hielten ihn für einen Ausgestoßenen, der von Gott geschlagen und gedemütigt wird. 5Doch er wurde gequält, weil wir schuldig waren. Er wurde misshandelt, weil wir uns verfehlt hatten. Er ertrug die Schläge, damit wir Frieden haben. Er wurde verwundet, damit wir geheilt werden. 6Wir hatten uns verirrt wie Schafe. Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg. Aber der Herr lud all unsere Schuld auf ihn. 7Er wurde misshandelt, aber er nahm es hin. Er sagte kein einziges Wort. Er blieb stumm wie ein Lamm, das man zum Schlachten bringt. Wie ein Schaf, das geschoren wird, nahm er alles hin und sagte kein einziges Wort. 8Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zur Hinrichtung geführt. Aber wen kümmert sein Schicksal? Er wurde abgeschnitten vom Land der Lebenden. Weil sein Volk schuldig war, traf ihn der Tod. 9Man begrub ihn bei den Verbrechern, bei den Übeltätern fand er sein Grab. Dabei hatte er keine Gewalttat begangen, keine Lüge war ihm über die Lippen gekommen. 10Es war der Plan des Herrn, ihn zu schlagen und leiden zu lassen. Er setzte sein Leben für andere ein und trug an ihrer Stelle die Schuld. Darum wird er viele Nachkommen haben und lange leben. Durch ihn führt der Herr seinen Plan zum Erfolg. 11Nachdem er so viel erduldet hat, wird er sich wieder sattsehen am Licht. Mein Knecht kennt meinen Willen. Er ist gerecht und bringt vielen Gerechtigkeit. Ihre Schuld nimmt er auf sich. 12Darum belohne ich ihn: Mit vielen anderen gebe ich ihm Anteil an der Beute. Mit zahlreichen Leuten wird er sie sich teilen. Denn er hat sein Leben dem Tod preisgegeben und ließ sich zu den Schuldigen zählen. Er trug die Sünden von vielen Menschen und trat für die Schuldigen ein.„
Jesaja 53, 1-12
Liebe Gemeinde,
warum musste Jesus Christus sterben? – Weil es der Plan Gottes war. So sagt er der Predigttext zweimal.
„Es war der Plan des Herrn, ihn zu schlagen und leiden zu lassen. Und: Durch ihn führt der Herr seinen Plan zum Erfolg.„
Jesaja 53, 10
Der Plan war aber kein Plan gegen Jesus. Zunächst sah das vielleicht so aus:
„Wir aber hielten ihn für einen Ausgestoßenen, der von Gott geschlagen und gedemütigt wird.“
Jesaja 53, 4b
Aber der Plan wurde erst notwendig, weil wir Menschen eine Beziehungsstörung zu Gott verursacht haben.
„Doch er wurde gequält, weil wir schuldig waren. Er wurde misshandelt, weil wir uns verfehlt hatten. Er ertrug die Schläge, damit wir Frieden haben. Er wurde verwundet, damit wir geheilt werden. Wir hatten uns verirrt wie Schafe. Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg. Aber der Herr lud all unsere Schuld auf ihn.“
Jesaja 53, 5+6
Der Plan Gottes ist ein Rettungsplan. Sein Heilsplan. Für uns Menschen. Ein Plan, der eigentlich ein Liebesbrief an uns Menschen ist. Denn
„so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Johannes 3, 16
Jesus musste sterben, weil Gott die Menschen liebt.
Als liebender Gott konnte und wollte er die Beziehungsstörung, auch Sünde genannt, die die Menschen durch die Ablehnung seiner Liebe verursacht haben, nicht stehen lassen. Die Auswirkungen dieser Beziehungsstörung sind zum einen überall in der Welt sichtbar. Die Sünde steht der guten Schöpfung Gottes entgegen und zerstört diese in allen Bereichen. Zum anderen nimmt die Sünde jeden Menschen persönlich gefangen, so dass all sein Tun von ihr mitbestimmt wird. Aus dieser Gefangenschaft wollte Gott die Menschen aus Liebe befreien und ihnen damit auch wieder eine Beziehung zu ihm ermöglichen. Er will uns nicht in die Irre und damit ins Verderben gehen lassen. Er will unser guter Hirte sein.
Doch hätte ein liebender Gott die Beziehung zu uns Menschen nicht auch auf eine andere, weniger grausame Art wiederherstellen können? Viele andere Möglichkeiten sind denkbar. So hätte er uns beispielsweise durch sein wirkmächtiges Wort ohne den Tod Jesu vergeben und uns aus der Knechtschaft der Sünde befreien können. Warum braucht es dazu ein Opfer? Warum Karfreitag?
Gott ist nicht nur ein liebender, sondern auch ein gerechter Gott. Deshalb konnte er die Sünde nicht „einfach so“ vergeben. Denn Schuld braucht Wiedergutmachung. Hätte er die Schuld den Menschen einfach ohne Weiteres erlassen, so blieben damit alle Vergehen der Menschen in Ewigkeit ungesühnt. Alle Menschen, die Ungerechtigkeit erlitten haben, wären ohne Wiedergutmachung geblieben. Aus Opferperspektive ist ein „einfach so“ undenkbar. Um der Gerechtigkeit willen braucht es Wiedergutmachung für die Sünde und die Schuld der Menschen.
„Er ist gerecht und bringt vielen Gerechtigkeit. Ihre Schuld nimmt er auf sich.“
Jesaja 53, 11b
Wichtig ist hier, dass nicht Gott die Wiedergutmachung braucht, sondern wir sie brauchen. Jesus ist für uns gestorben. Für dich und für mich.
Dieses für uns beinhaltet drei Aspekte. Diese drei Aspekte sind schon angeklungen. Ich möchte sie aber nochmal etwas ausführen:
Erstens kann das „für uns“ als ein „anstelle von uns“ verstanden werden.
„Er setzte sein Leben für andere ein und trug an ihrer Stelle die Schuld.„
Jesaja 53, 10b
So heißt es vom Gottesknecht. Die letzte Konsequenz der Sünde ist der Tod. Diesen stirbt Jesus anstelle von uns, das heißt stellvertretend für die Menschen.
Zweitens heißt „für uns“ auch „wegen uns“.
„Er wurde gequält, weil wir schuldig waren. Er wurde misshandelt, weil wir uns verfehlt hatten. Er ertrug die Schläge, damit wir Frieden haben. Er wurde verwundet, damit wir geheilt werden.„
Jesaja 53, 5
Jesus stirbt wegen unserer Sünden. Er stirbt, um uns Menschen aus der Knechtschaft der Sünde zu erlösen. Erst durch den Tod Jesu ist echte Freiheit möglich. Nur durch den Tod Jesu ist wahrer Frieden möglich. Und nur durch den Tod Jesu ist vollkommene Heilung möglich.
Drittens meint „für uns“ „uns zu Gute“. Jesus stirbt auch, um die Verbindung von den Menschen zu ihrem Schöpfer wiederherzustellen. Gott schafft durch den Tod Jesu wieder Frieden zwischen uns und ihm. Das kann nicht einfach so passieren. Dazu braucht es ein Sühneopfer, weil Gott gerecht und heilig ist.
„Er trug die Sünden von vielen Menschen und trat für die Schuldigen ein.„
Jesaja 53, 12b
Nur durch ein Opfer, das die Sünde trägt, wird die Verbindung zwischen dem heiligen Gott und den durch Sünde verunreinigten Menschen wieder möglich. Jesus stirbt als einmaliges und endgültiges und damit den Opferkult überwindendes Opfer. Auch diese Hingabe Jesu gründet in seiner Liebe. Während der alttestamentliche Opferkult notwendig war, um den sogenannten alten Bund aufrecht zu erhalten, wird mit dem Tod Jesu der Neue Bund begründet. Wir hören es nachher wieder bei der Einsetzung des Abendmahls: Das ist das Blut des neuen Bundes, das für euch und für viele vergossen ward. Jesus selbst hat seinen Tod auf diese Weise gedeutet.
Jesus musste also „für uns“ sterben, weil Gott die Menschen liebt und in Beziehung mit ihnen leben möchte, gleichzeitig aber aufgrund seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit nicht einfach über die Sünde der Menschen hinwegsehen kann.
Warum braucht es dazu aber gerade die Hingabe Jesu?
In unserem Predigttext wird das Ergehen des Knechtes Gottes beschrieben. Dieser wir vor Gericht gestellt und zur Hinrichtung geführt.
„Dabei hatte er keine Gewalttat begangen, keine Lüge war ihm über die Lippen gekommen.“
Jesaja 53, 9b
So räumt es der Text selbst ein. Mit Jesus Christus ist nicht nur der Knecht Gottes gestorben, nein, Gott selbst hat in seinem Sohn den Tod auf sich genommen. Viele stoßen sich an der Vorstellung eines Gottes, der ein Menschenopfer benutzt, um die Sünde zu besiegen. Es ist für sie nicht einleuchtend, warum Gott Gewalt anwendet, um Gewalt aus der Welt zu räumen. Da sich aber in Jesus Christus der dreieinige Gott offenbart hat, musste mit Jesus eben nicht nur irgendein Mensch am Kreuz sterben, sondern Gott selbst litt und starb. Gott ist damit gleichzeitig Subjekt und Objekt des Versöhnungsgeschehens am Kreuz. Gott opfert nicht einen anderen Menschen für alle Menschen, sondern er opfert sich selbst. In Christus bewirkt nicht ein Mensch die Versöhnung Gottes, sondern Gott die Versöhnung der Menschen. Der Knecht Gottes stirbt als wahrer Mensch und als wahrer Gott.
Der Tod Jesu war notwendig, aber die Frage ist noch: Warum so hart und grausam? Warum musste Jesus denn auf diese schreckliche Art und Weise sterben? Die Kreuzigung war die grausamste und schmerzvollste Art der Hinrichtung im Römischen Reich. Sie galt als besonders entehrend. Wie blutig die Kreuzigung war, hing davon ab, wieviel Geißelung ihr vorausgegangen ist und ob das Opfer nur aufgehängt oder angenagelt wurde. Im Judentum galt der Tod am Kreuz als ein Fluchtod. Warum hätte es nicht auch irgendeine andere Art der Hinrichtung sein können?
Indem Jesus diesen schändlichsten aller Tode stirbt, kehrt er die Werte dieser Welt im höchstmöglichen Maß um.
„Wer hätte für möglich gehalten, dass der Herr an einem solchen Menschen seine Macht zeigt?„
Jesaja 53, 1b
Das Ärgernis des Kreuzes verkehrt die gängigen Wertvorstellungen dieser Welt komplett. Es widerspricht den damaligen und unseren heutigen Vorstellungen von Macht, Herrschaft und Status total.
„Er hatte keine Gestalt, die schön anzusehen war. Sein Anblick war keine Freude für uns. Er wurde von den Leuten verachtet und gemieden. Schmerzen und Krankheit waren ihm wohl vertraut. Er war einer, vor dem man das Gesicht verhüllt. Alle haben ihn verachtet, auch wir wollten nichts von ihm wissen.„
Jesaja 53, 2b+3
Gottes Kraft kommt gerade da zum Ausdruck, wo aus menschlicher Perspektive nur noch Schwachheit zu erkennen ist. Wahrscheinlich fällt es auch deshalb den Leidenden und Schwachen dieser Welt leichter, die Botschaft vom Kreuz anzunehmen als denen, die Macht und Ansehen in dieser Welt haben. Wahrscheinlich wächst deshalb die verfolgte Kirche, während die Christen der westlichen Welt immer weniger werden.
Und damit sind wir auch schon beim zweiten Grund für den Kreuzestod Jesu. Indem Gott in Jesus den grausamsten Tod stirbt und dadurch das größte Leid erfährt und durchlebt, verbindet er sich mit allen Leidenden dieser Welt. Gott weiß aus eigener Erfahrung, wie sich Geißelung, Spott und Schmähung anfühlen. Jesus litt nicht nur für uns, sondern auch mit uns. Wenn Jesus am Kreuz nach Gott schreit:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Markus 15, 34
dann erfährt er das Gefühl der Gottverlassenheit, das so viele Menschen in ihrem Leben er- und durchleben müssen. Jesus verbindet sich am Kreuz mit allen Klagenden und Leidenden, mit allen, die nur noch ein klagendes „Warum?“ Gott entgegenschreien können.
Der schändliche Kreuzestod Jesu beantwortet zwar die Frage nicht, warum es Leid in unserer Welt gibt. Aber er schließt zwei Antwortmöglichkeiten aus. Zum einen ist es nicht möglich, dass Gott nicht weiß, wie sich das menschliche Leiden anfühlt und ihn das Leid der Menschen deshalb kalt lässt. Zum anderen wird durch den Tod Jesu klar, dass das Leid in der Welt kein Zeichen dafür ist, dass Gott die Menschen nicht liebt. Denn gerade im größten Leiden hat Gott seine Liebe zu den Menschen offenbart. Das Kreuz ist der größte Liebesbeweis Gottes. Die Tiefe der göttlichen Liebe wird durch den schändlichsten aller Tode in ihrer ganzen Dimension greifbar.
Jesus stirbt für uns am Kreuz. Das war Gottes Rettungsplan. Aber Gottes Plan war damit noch nicht zu Ende. Auch wenn heute der Tod Jesu im Fokus steht, so wissen wir doch, dass der Tod nicht das letzte Wort hatte. Gottes Plan endet nicht wie viele Dramen von Shakespeare, wo am Ende meistens alle tot sind. Nein, am Ende von Gottes Plan steht das Leben, das den Tod endgültig überwindet. Das Lied über den Gottesknecht lässt es an einigen Stellen schon durchblitzen. So heißt es gleich zu Beginn:
„Seht her, mein Knecht wird Erfolg haben. Er wird in die allerhöchste Stellung erhoben. Viele Völker werden über ihn staunen, und Königen wird es die Sprache verschlagen. Denn sie sehen, was ihnen keiner je erzählt hat. Sie erleben, was sie noch nie gehört haben.„
Jesaja 52, 13-15
Und später heißt es noch:
„Nachdem er so viel erduldet hat, wird er sich wieder sattsehen am Licht.„
Jesaja 53, 11
Gottes Plan ist ein erfolgreicher Plan mit Happy End. Als Christen wissen wir, dass Karfreitag nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Zeit ist. Der Zeit, in der wir die Möglichkeit haben versöhnt mit Gott zu leben. In der nicht mehr der Tod, sondern das Leben siegt. Amen.
Die Predigt wurde im Gottesdienst am Karfreitag, den 2. April 2021 in Ruit in der Auferstehungskirche gehalten.
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