Liebe Gemeinde,
wie sieht Ihr Traum von Gemeinde aus? Wie müsste Kirche Ihrer Meinung nach organisiert und strukturiert sein, damit es so richtig gut laufen würde? Wen braucht es alles für eine funktionierende Gemeinde?
Das sind Fragen, über die sich Christen den Kopf zerbrechen, seit es Gemeinde gibt. Gerade in diesen Tagen, in denen in den westlichen Großkirchen so gut wie alle Gemeinden kleiner werden und das Geld knapper wird, gibt es wieder unzählige Strukturdebatten. Viele werden sie als zäh und ätzend erleben, was ich auch gut nachvollziehen kann. Aber manchmal braucht es ein Innehalten und ein ganz praktisches Umstrukturieren. Um sich wieder auf das Eigentliche zu konzentrieren. Um neue Akzente zu setzen. Und vor allem, um dem Wort Gottes, der guten Nachricht, Raum zu geben, sich zu entfalten.
Schon in der Urgemeinde war das so. Schon damals, als die Apostel selbst noch die Gemeinde leiteten, traten Probleme auf, auf die eine Antwort gefunden werden musste.
Einen solchen Prozess beschreibt unser heutiger Predigttext. Da es sich ja um die Ursprünge handelt, müssen wir in diesem Kontext wohl eher von Strukturierung als von Umstrukturierung reden. Doch ich denke, dass wir einiges von den ersten Christen für unsere Arbeit in Gemeinde und Kirche lernen können.
Ich lese aus der Apostelgeschichte im 6. Kapitel:
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. 3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. 6 Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Apostelgeschichte 6,1-7
Obwohl – oder vielleicht auch gerade weil die Gemeinde wuchs, gab es Stress. Ein Murren – wie Luther übersetzt. Der Begriff erinnert an das Volk Israel in der Wüste. Auch die Israeliten haben an verschiedenen Stellen gemurrt und ihrem Unmut dadurch Luft gemacht.
Murren – ein Ausdruck von Unzufriedenheit kennen Sie sicher auch aus Ihrer Gemeinde. Ich behaupte es kommt in jeder Gemeinde vor – es kommt überall vor, wo Menschen zusammen sind und deshalb über kurz oder lang Probleme auftreten. Das ist menschlich und das gehört dazu. Und es ist nicht nur schlecht. Es kann auch, wie in diesem Fall, Chance und Anlass für Verbesserungen sein.
Der Grund für das Murren in der Urgemeinde war eine ungerechte Verteilung bei der Witwenfürsorge. Die griechisch sprechenden Frauen wurden offenbar nicht in gleichem Maße bedacht wie die hebräischen. Ob das Absicht oder ein Versehen war, sagt uns der Text nicht.
Aber es war der Auslöser für die Beschwerde der griechischen Juden in der Gemeinde. Sie wenden sich an die 12 Apostel, die die Urgemeinde leiteten.
Diese waren bis dahin auch für die Verteilung der Güter und Versorgung der Armen zuständig gewesen und daher auch die logischen Ansprechpartner. Anstatt ihr bisheriges Vorgehen zu verteidigen oder irgendwelche Ausreden zu formulieren, nehmen sie die Kritik wahr und ernst. Es scheint außer Frage zu stehen, dass die Fürsorge für die Witwen zur Aufgabe der Gemeinde gehört. Auch wird nicht diskutiert, ob die Witwen hellenistischen Hintergrundes überhaupt einen Anspruch darauf haben. Die Gemeindeleiter reagieren nicht emotional. Sie problematisieren nicht das Problem, sondern suchen stattdessen nach einer Lösung dafür. Sachlich und lösungsorientiert gehen sie an das Thema heran.
Ihr Lösungsvorschlag lässt sich mit einem Dreischritt beschreiben: Prioritätensetzung, Aufgabenteilung und Personalaufstockung. Eine Herangehensweise, die auch für unsere heutige Arbeit in Gemeinde und Kirche hilfreich sein kann und die wir uns nun genauer ansehen wollen.
Zum Ersten: Prioritätensetzung. „Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen. – Wir wollen ganz beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben.“
Die Apostel wollen sich ganz bewusst auf ihre primären Aufgaben konzentrieren. Welche das sind, steht für sie außer Frage. Das Gebet und der Dienst am Wort. Dafür fühlen sie sich berufen. Darin sind sie kompetent. Und darin sehen sie offenbar die Hauptaufgaben von Gemeindeleitern.
Ich finde es sehr spannend, dass sie als erste Aufgabe das Gebet nennen. Welche Mitarbeiter in der Kirche würden das als ihre Hauptaufgabe beschreiben? Das Zukunftsteam der EKD hat vor kurzem „Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ unter dem Titel „Kirche auf gutem Grund veröffentlicht.“ Das Gebet wird dort mit keinem Wort erwähnt! Bei diversen Modellen zur Arbeitszeitberechnung von Pfarrern, wie sie manche Landeskirchen haben, kommt Gebet nicht vor. Und wenn ein Pfarrer mal auflisten würde, womit er seine Arbeitszeit füllt, dann käme das Gebet mit Sicherheit bei den meisten – inklusive mir – ganz schlecht weg. Das macht mich nachdenklich.
Denn sicher ist für die Apostel das Gebet nicht ohne Grund eine Hauptaufgabe neben dem Dienst am Wort. Das Studium, die Verkündigung und die Lehre sehen sie als ihre zweite Aufgabe an. Das würden sicher einige Pfarrer auch zu ihren Kernaufgaben zählen.
Doch auch das ist nicht mehr so eindeutig und unumstritten. Ist dieser Form des Dienstes noch zeitgemäß? Lehre und Verkündigung. Sollte Kirche nicht vielmehr sich auf das diakonische und sozial-politische Engagement konzentrieren? Ist ein Straßeneinsatz für Obdachlose nicht viel sinnvoller als ein Glaubenskurs oder eine Bibelstunde?
Ich denke, es ist wichtig, dass es nicht ein Entweder Oder, sondern ein sowohl als auch ist. Dass für beide Tätigkeiten der Begriff des Dienens verwendet wird, macht deutlich, dass das eine nicht über dem anderen steht. Auch die Apostel verstehen sich als Diener. Sie halten sich nicht für etwas Besseres oder für zu gut, um zu dienen, aber ihr Dienst ist ein anderer. Es geht darum, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Wenn wir das Gebet und den Dienst am Wort vernachlässigen, dann sind wir nicht mehr im Auftrag des Herrn unterwegs. Wenn uns unsere Mitmenschen und deren Not egal ist, dann genausowenig. Beides gehört zusammen. Beides gehört zu Kirche. Für beides beruft und befähigt Gott Menschen, so dass nicht einige Wenige für alles verantwortlich sind, sondern jeder sich auf sein Aufgabengebiet konzentrieren kann.
Und damit kommen wir zum zweiten: Aufgabenteilung. Weil sie sich auf ihre Aufgaben – Gebet und den Dienst am Wort konzentrieren wollen, deshalb sollen andere eingesetzt werden, die den diakonischen Dienst übernehmen. Die Apostel haben verstanden, dass Fokussierung und Spezialisierung notwendig ist, um ihre Arbeit gut tun zu können. Haben auch wir als Kirche das verstanden? Wie sind bei uns die Aufgaben verteilt? Sind wenige für alles zuständig oder gibt es verschiedene Bereiche, in denen Menschen ihren Gaben und Vorlieben entsprechend sich konzentriert einbringen?
Ich habe ehrlich gesagt noch keine Ahnung, wie das bei Ihnen hier in Ruit ist. Und es steht mir als neue Pfarrerin auch überhaupt nicht zu, hier ein Urteil zu fällen oder bereits Tipps zu geben. Jedoch legt es der Text nahe, die Aufgabenverteilung einmal in den Blick zu nehmen. Vielleicht kann es ja eine Anregung für Ihre Gruppe oder den Kreis, in dem Sie dabei sind, sein.
Wichtig ist, das möchte ich noch einmal sagen, dass es in der Gemeinde keine Aufgaben zweiter Klasse gibt. So ist die diakonische Aufgabe so wichtig wie die Wortverkündigung. Denn auch sie ist eine geistliche Aufgabe.
Und ohne dass es der Text hier explizit aufführt, denke ich, dass wir das für alle Aufgaben in der Gemeinde übernehmen können. Die Jungschar ist nicht weniger wichtig als die Musik, die Mitarbeit in der Bibelstunde so zentral wie die Mitwirkung beim Gemeindefest in der Küche.
Letztlich ist es egal, an welche Stelle wir gestellt sind. Als Christen legen wir immer und mit all unserem Tun Zeugnis für Jesus Christus ab. Egal, in welchem Dienst wir stehen, egal ob wir haupt- oder ehrenamtlich sind – für Christus Zeugnis abzulegen, gehört unabdingbar zum Leben eines Christen. Und das tun wir eben beidseitig – in der Verkündigung und im praktischen Tun. Ein Dienst am Wort ohne Liebe und ein Blick für die Mitmenschen ist unglaubwürdig und verfehlt. Und andersherum ist der diakonische Dienst am Nächsten ohne Liebe für Christus, ohne den Heiligen Geist, leer, weil er nicht auf Christus, auf die Liebe selbst hinweist. Denn Menschen Christus vorzuenthalten ist lieblos!
Und wenn jemand ganz praktisch dient und auf seine Motivation angesprochen wird, dann muss er auch bereit sein Zeugnis zu geben, wie es im 1. Petrusbrief formuliert wird:
„Seid jederzeit bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der euch auffordert, Auskunft über die Hoffnung zu geben, die euch erfüllt.“
Wenn eine Mitarbeiterin im Seniorenkreis gefragt wird, warum sie bereit ist, so viel Zeit in die älteren Menschen zu investieren, dann hat sie Gelegenheit Jesus Christus zu bezeugen. „Weil Jesus Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung seine unfassbar große Liebe für mich gezeigt hat und ich aus dieser Liebe lebe, deshalb ist es mir wichtig, seine Liebe auch ganz praktisch weiterzugeben.“ Deshalb ist es wichtig, dass auch die, die praktisch dienen, im Wort Gottes verankert sind. Dazu braucht es wiederrum die, die für sie beten und ihnen Gottes Wort auslegen.
Sie merken, alles ist eng miteinander verknüpft. In unseren verschiedenen Aufgaben sind und bleiben wir immer aufeinander angewiesen.
Schauen wir uns zuletzt noch den dritten Punkt der Lösung an: die Personalaufstockung. Klar ist, dass man für eine differenziertere Aufgabenverteilung mehr Personal braucht. Doch wer welche Aufgabe übernimmt, muss wohl überlegt sein.
So ist es den Aposteln wichtig, dass nicht irgendjemand die neuen Aufgaben übernimmt, sondern dass die Männer gewisse Kompetenzen mitbringen. „Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männer in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst.“
Welche Kriterien legen wir bei der Mitarbeitersuche an?
Die Gemeinde soll sieben Männer mit bestimmten Eigenschaften für die neue Aufgabe suchen. Sieben sind es vermutlich, weil das die damalige Größe eines jüdischen Ortsvorstandes war und sich das offensichtlich bewährt hatte. Außerdem sollen sie aus ihrer Mitte sein – das heißt welche, die bekannt sind, die in der Gemeinde stehen, die die Leute und auch die Problematik kennen. Dann sollen sie einen guten Ruf und weise sein. Jemand, der nicht vertrauenswürdig ist, kann nicht mit einer solchen Aufgabe der gerechten Verteilung betreut werden. Und auch eine gewisse Klugheit ist eine wichtige Begabung für eine gute Organisation.
Nicht zuletzt sollen die Männer voll Heiligen Geistes sein. Das ist ein spannender Punkt, wenn wir an unsere heutigen Diskussionen denken, wer bei uns in der Diakonie arbeiten darf. Wir haben bereits gesagt, dass die diakonische Aufgabe ist keine Arbeit zweiter Klasse gegenüber der Wortverkündigung. Auch sie ist eine geistliche Aufgabe. Ist es also wirklich egal, wenn ein Altenpfleger oder ein Personalerin in der Diakonie sich nicht zu Jesus Christus bekennt?
Wenn wir Diakonie als geistliche Aufgabe verstehen, dann ist es sehr wohl relevant, wer bei uns in der Diakonie arbeitet. Auch wenn die Diakonie mittlerweile ein riesiges Unternehmen ist, sollten wir uns bewusst sein, dass da, wo Kirche draufsteht auch Kirche drin sein sollte.
Die Umstrukturierung in der Urgemeinde brachte weiteres Wachstum. Der Text weißt am Anfang und am Ende auf das Wachstum hin. Bei genauem Lesen stellt man fest, dass das Wort Gottes wuchs. Lukas versteht es als eigenständiges Subjekt. Das zeigt uns, dass das Wort Gottes Macht hat – auch ohne unsere Strukturen.
Und dennoch macht uns der Text deutlich, dass Strukturen hilfreich oder auch hinderlich für die Ausbreitung der guten Nachricht sein können und deshalb nicht irrelevant sind.
Ich habe Sie am Anfang nach Ihrem Traum von Gemeinde gefragt. Mein Traum von Gemeinde ist eine Gemeinde, in der sich alle in ihrem Bereich und ihren Gaben entsprechend dafür einsetzen, dass das Wort Gottes in Wort und Tat Raum bekommt, damit möglichst viele Menschen von der Rettung in und durch Jesus Christus erfahren und ihr Leben durch seine Liebe die entscheidende Wendung bekommt. Ich freue mich, mit Ihnen in Ruit daran und dafür zu arbeiten.
Amen.
Die Predigt wurde im Gottesdienst am 6. September 2020 in Ruit gehalten.
No responses yet