Liebe Gemeinde,
es ist einer der letzten Schultage. Alle sitzen aufgeregt und hippelig im Klassenzimmer. Manche, weil sie sich so freuen, manche, weil sie Angst haben, vor dem, was nun kommt. Die Lehrerin holt den Stapel aus ihrer Tasche und dann geht es los. Sie verteilt die Zeugnisse. Schwarz auf weiß bekommt nun jeder quittiert, was er im vergangenen Schuljahr gut gemacht hat und was auch hätte besser sein können. Für manche geht es um die Versetzung ins nächste Schuljahr. Mathe: befriedigend, Deutsch: gut, Englisch: ausreichend, evangelische Religionslehre: sehr gut … und so weiter. So oder so ähnlich läuft das in diesen Tagen in den Schulen ab.
Wie ging es Ihnen damals bei der Zeugnisausgabe? Denken Sie gerne daran zurück oder ist es eher eine schmerzliche Erinnerung?
Es ist ganz am Ende Ihres Lebens. Jetzt bekommen Sie ihr Lebenszeugnis überreicht. Von Gott höchstpersönlich. Nächstenliebe: befriedigend, Umweltschutz: sehr gut, Ehrlichkeit: ausreichend, Demut: befriedigend…und so weiter. So wäre das vielleicht noch erträglich. Aber was, wenn da dann überall „ungenügend“ steht? Was, wenn das Zeugnis nicht gut genug ist, um in den Himmel, in die Ewigkeit versetzt zu werden?
Unseren heutigen Predigttext könnte man so verstehen. Dass alles von unserem Verhalten – von unserer Leistung abhängt – und dass dieses eben auch zu schlecht sein kann. Man kann aber auch genau das Gegenteil in diesem Text finden. Ich lese aus dem 5. Buch Mose im 7. Kapitel:
6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. 9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.
12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat,
5 Mose 7,6-12
Je nach dem, mit welchem Ohr man diesen Text hört, bleibt Unterschiedliches – man könnte sogar sagen Gegensätzliches hängen.
Da ist zum einen dieser Wenn-Dann-Zusammenhang. Wenn du mich liebst, dann liebe ich dich. Wenn du meinen Bund hältst, dann bin ich barmherzig. Wenn du mich aber hasst, dann vergelte ich dir das. Wenn du dich nicht an meine Gebote hältst, dann bringe ich dich um. – Übersetzt: Wenn deine Leistung ungenügend ist, dann hast du es verbockt. Das ist das soeben von mir beschriebene Zeugnisprinzip. Das ist das eine, das man hören kann.
Das andere ist: Ich habe dich erwählt. Für dich habe ich mich entschieden. Und das obwohl du eigentlich total klein und unbedeutend bist. ich habe mich zu einem Bund – zu einer Beziehung mit dir entschieden ohne dass du eine Vorleistung erbracht hast. Rational ist das vielleicht nicht nachvollziehbar. Aber ich liebe dich. Unabhängig von deiner Leistung. Deshalb habe ich auch alles für dich gegeben und tue das immer noch. Ich habe dich aus der Knechtschaft in Ägypten befreit und werde auch weiter für dich einstehen. Ich nenne diese zweite Lesart das Erwählungsprinzip.
Der Text, liebe Gemeinde, ist ursprünglich Teil einer mahnenden Rede Moses an das Volk Israel. Mose erinnert das Volk an die besondere und einzigartige Beziehung, die zwischen Gott und seinem Volk besteht. Israel ist das von Gott erwählte Volk. Das Volk, mit dem Gott eine ganz besondere Geschichte geschrieben hat und weiterschreibt. Durch die Jahrhunderte hindurch und bis zum heutigen Tag scheint das Volk der Juden eine besondere Stellung in der Geschichte zu haben.
Warum erwählte sich Gott so ein kleines, unwichtiges Nomadenvolk und nicht eine Hochkultur wie Ägypten oder Assur? Rational ist das auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Und wenn man die Geschichte des Volkes verfolgt, kann man auf jeden Fall festhalten, dass es auch nicht die besondere Treue oder die besonders guten Leistungen des Volkes sind, die es auszeichnen. Erklärbar ist diese Erwählung nur mit Gottes Liebe. „Weil er euch geliebt hat“ so sagt es Mose.
Liebe erwählt unabhängig von Leistung. Oft für Außenstehende überhaupt nicht nachvollziehbar. „Also was die an dem findet, kann ich ja absolut nicht verstehen.“ – solche Gedanken hatten Sie vielleicht auch schon in Bezug auf die Partnerwahl Ihrer Freunde.
Echte Liebe ist oft nicht erklärbar und echte Liebe ist unabhängig von Leistung. So nimmt eine Mutter oder ein Vater das Kind, das traurig mit einem schlechten Zeugnis nach Hause kommt, in den Arm anstatt es runter zu machen. Aus Liebe hat Gott Israel erwählt und einen Bund mit ihnen geschlossen: Ihr seid mein Volk und ich bin euer Gott. Gott hat sich für Israel nach dem Erwählungs- und nicht nach dem Zeugnisprinzip entschieden.
Jetzt gehören wir sogenannten Heiden nicht zu Gottes erwähltem Volk. Aber in Jesus Christus hat er die Möglichkeit für alle Menschen geschaffen, einen Bund – eine Beziehung mit ihm zu haben. Er hat durch Jesus gezeigt, dass er alle Menschen liebt. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“
Der Bund oder die Beziehung zwischen Gott und uns wird in der Taufe besiegelt. „Ich habe die erwählt. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ Was ursprünglich dem Volk Israel zugesprochen hat, können wir in und durch Jesus Christus auch den Täuflingen zusprechen. Eine Leistung muss dafür nicht vorgewiesen werden.
Das wird besonders deutlich, wenn wir kleine Kinder zur Taufe bringen, die wirklich außer vielleicht einem zuckersüßen Lächeln nichts vorweisen können. In der Taufe hat Gott seinen Bund zu mir begründet. In der Taufe hat Gott JA zu Ihnen gesagt. Nicht, weil Sie und ich besonders toll wären – nein, aus Liebe. Auch bei uns geht er nach dem Erwählungsprinzip vor.
Jetzt müssen wir aber dennoch noch das andere, das Zeugnisprinzip in den Blick nehmen, denn es ist aus diesem und aus vielen anderen biblischen Texten nicht wegzudiskutieren. Warum dieses Wenn-Dann? Wie passt das zu diesem bedingungslosen Erwählungsprinzip? Es scheint der göttlichen Liebe zu widersprechen – und gleichzeitig ist es doch nur mit und durch die Liebe erklärbar.
Gott hat ein Volk erwählt – und die Folge ist, dass dieses eine Volk sich auch nur an den einen Gott halten soll. Er will keine Mehrehe. Er will Treue. Ein vom Volk erwidertes Ja. „So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.“ Gottes Erwählung ist bedingungs- und voraussetzungslos – ja, aber sie ist kein Freifahrtschein.
Wäre sie das, wäre die Liebe zum einen nicht echt. Denn echte Liebe eifert. Sie will erwidert werden. Sie ist eifersüchtig. Sie ist exklusiv.
Und zum anderen wäre die Liebe nicht frei. Denn Liebe zwingt nicht. Wem die Erwählung gleichgültig ist, der schließt sich selbst aus. Gottes Bund ist wie jede echte Beziehung auf Gegenseitigkeit angelegt. Die Liebe zu Gott drückt sich eben auch daran aus, dass wir seine Gebote, das heißt seinen Willen ernst nehmen. „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.“ – so sagt es Jesus im Johannesevangelium. Es ist nicht so, dass Gott uns seine Liebe aufkündigt, wenn uns das nicht gelingt. Aber wenn wir auf der einen Seite sagen, dass wir Gott lieben, uns aber auf der anderen Seite Gottes Gebote für unser Leben völlig egal sind, stimmt das nicht zusammen. Dann ist unsere Liebe nur geheuchelt.
Gottes Erwählung ist kein Freifahrtschein und so ist auch unsere Taufe kein Freifahrtschein. Wem seine Taufe egal ist, wer Gottes JA nicht in und durch sein Leben mit einem eigenen JA beantwortet, der kündigt die Beziehung letztlich freiwillig und von sich aus auf. Ein Getaufter, der lebt, als gäbe es Gott nicht, dem zwingt sich Gott nicht auf.
Damit aber kein Leistungsdenken aufkommt, ist die Reihenfolge das Entscheidende. Denn bevor Gott fordert, gibt er. Er hat sich zuerst das Volk Israel erwählt und einen Bund geschlossen, und dann hat er das Volk aufgefordert der Erwählung entsprechend zu leben. Er sagt JA und macht es mir damit möglich, JA zu sagen und dieses Ja auch in meinem Leben umzusetzen. Er zwingt aber weder das Volk Israel seinem Bund entsprechend zu leben, noch zwingt er mich, meine Taufe für mich persönlich anzunehmen. Denn Gottes Beweggrund und sein Handlungsmotiv sind seine echte und freie Liebe.
Aus Liebe bietet er uns eine Beziehung an. Aus Liebe lässt er uns die Freiheit, diese auch abzulehnen. Und aus Liebe zu ihm, machen wir seine Gebote und seinen Willen zum Maßstab in unserem Leben.
Ich bin mir sicher: Unabhängig von meinen Einzelleistungen wird unter meinem Schlusszeugnis „versetzt“ stehen. Nicht weil ich besonders fromm bin und es verdient habe, sondern weil Gott mich bei meinem Namen gerufen hat und durch seinen Sohn Jesus Christus erlöst hat. Weil Gott JA zu mir gesagt hat und ich dieses JA für mich angenommen habe. Und das möchte ich auch dir zusagen: Weil Gott dich liebt und du in einem Bund mit ihm lebst, musst du keine Angst vor dem Abschlusszeugnis haben. „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Amen.
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