Liebe Gemeinde,
was haben Nelson Mandela, Barack Obama, die EU und der äthiopische Präsident Abiy Ahmed gemeinsam? – Richtig, sie sind alle Friedensnobelpreisträger. Diesen Preis bekommt verliehen, wer „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt“ – so die Maßgabe des Stifters Alfred Nobel. Es geht um die Förderung von Demokratie, Recht und Gerechtigkeit.
Ein potenzieller Preisträger wäre mit Sicherheit auch der Herrscher, von dem in unserem heutigen Predigttext die Rede ist. Ich lese aus Jeremia 23 die Verse 5-8:
5 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. 6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«. 7 Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, 8 sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
Jeremia 23, 5-8
„Siehe, es kommt die Zeit“ – Jeremia gibt im Auftrag des Herrn zwei Verheißungen weiter. Er kündigt zwei Dinge an, die, zu ihrer Zeit, eintreffen werden: Erstens, dass er einen gerechten König aus der Nachkommenschaft Davids erwecken wird, der mit Recht und Gerechtigkeit wohl regieren wird. Das wird zur Folge haben, dass Juda geholfen wird und Israel sicher wohnen wird.
Und zweitens prophezeit Jeremia, dass der Beinamen Gottes, der in charakterisiert und personalisiert, geändert wird. Ein neues Heils- und Befreiungshandeln ersetzt das alte. Man wird nicht mehr sagen: „So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern man wird sagen »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. Die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk bekommt einen neuen Fixpunkt.
„Siehe, es kommt die Zeit“ – zunächst fordert Jeremia das Volk Israel, zu dem er im Namen des Herrn gesprochen hat, auf hinzusehen. Es geht hier erst einmal um konkrete Verheißungen, in einer konkreten historischen Situation ans Volk Israel.
Es waren politisch bewegte Zeiten. Israel stand unter der Vorherrschaft der babylonischen Großmacht. Die Situation spitzte sich zu. Die nahende Katastrophe war mit Händen zu greifen. Wirklich sicher kann sich nur noch fühlen, wer Augen und Ohren vor der Wirklichkeit verschließt. In diese Situation hinein spricht Jeremia das Volk im Auftrag Gottes an. Mit einer Hoffnungsbotschaft, die absolut konträr zur Realität steht.
„Siehe, es kommt die Zeit.“ – Zunächst brachen ganz andere Zeiten an. Eroberung, Verschleppung, Exil. Leben in einem fremden Land und unter fremder Herrschaft. Jeremia hatte das Volk gewarnt: Gott würde die Babylonier gebrauchen, um sein Volk zu richten. Gott war nicht mehr länger bereit, den Götzendienst und das Unrecht seines Volkes hinzunehmen. Er war nicht mehr länger bereit, mitanzusehen, wie die eigentlich verantwortlichen, die Könige und Priester auf Kosten der Ärmsten und Schwächsten, das Recht beugten. Jeremia kündigt das Gericht an und das Gericht kommt. Jerusalem wird erobert und zerstört. Das Volk wird ins Exil geführt.
Aber, und das ist die große Hoffnungsbotschaft in unserem Text, Gott wird es dabei nicht belassen. Er gibt sein Volk nicht auf, nein, schon vor der Vertreibung spricht er ihnen die Rückkehr, seine Hilfe und ein Leben in Sicherheit zu. Und er verspricht ihnen einen König, dessen Name: „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“ (Jer 23, 6b) sein wird, weil er so regieren wird. Mit Recht und Gerechtigkeit.
So einen Herrscher, so einen Regierungschef wünsche ich mir auch. Einer, der mit Recht und Gerechtigkeit herrscht und das in allen Bereichen durchsetzt. So, dass sich wirklich keiner mehr ungerecht behandelt fühlt. Gerade in diesen Tagen wünsche ich mir das. Aber wie schwierig das mit den guten Herrschern ist, wird uns klar, wenn wir die Friedensnobelpreisträger, die ich anfangs erwähnt habe, noch einmal in den Blick nehmen. Mit Sicherheit haben sie alle Gutes und Wichtiges getan und sich in ihrem Teil auch für eine friedlichere und gerechtere Welt eingesetzt. Aber wie bruchstückhaft ihr Bemühen ist, sieht man, wenn man beispielsweise nach Äthiopien schaut. Der Mann, der sich für die Aussöhnung mit dem nördlichen Nachbarland Eritrea einsetzte, kämpft gleichzeitig brutal gegen die Tigray in seinem eigenen Land. Oder nehmen wir Obama. Es ist ihm sicher nicht abzusprechen, dass er um Demokratie und Frieden bemüht war, aber gleichzeitig verantwortete er zahlreiche brutale Drohnenangriffe, bei der auch viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Wöchentlich unterzeichnete er die sogenannte Kill-List. Man könnte viele weitere Beispiel anfügen.
Was menschliche Herrscher und Regierungen vollbringen können, ist und bleibt immer nur Stückwerk. Sie können Schritte in die richtige Richtung gehen, aber müssen dabei auch immer Kompromisse machen. Denn noch leben wir alle in einer gebrochenen Welt. In einer Welt, in der es immer wieder Dilemmasituationen gibt. Situationen, in denen eine umfassende und für alle gute Lösung unmöglich ist. Möglich ist nur ein Abwägen von Argumenten, Aspekten und Konsequenzen. Immer wieder müssen Entscheidungen getroffen werden, die auch eine unerwünschte Kehrseite mit sich bringen. Das müssen wir in Kauf nehmen. Und da brauchen wir nicht nur auf die Großen und scheinbar Mächtigen da oben zu schauen und zu zeigen. Das fängt im Kleinen, im ganz Alltäglichen an. Viele von uns sind im Moment regelrecht zerrissen zwischen Freiheit und Verantwortung. Nutzen wir die Spielräume, die die staatlichen und kirchlichen Corona-Regeln uns noch lassen oder sind wir lieber noch ein bisschen vorsichtiger und nehmen uns zusätzlich zurück? Was hat welche Folgen für wen? Ich will das jetzt gar nicht bewerten oder beantworten. Nur die Fragestellungen und das Problem aufzeigen. Das, was wir hier tun und machen, alles Ringen und Bemühen um Gerechtigkeit und auch um ein gutes Miteinander bleibt nur Stückwerk. Oft verbunden mit Dilemmata.
Martin Luther schrieb einmal seinem Freund Melanchthon, der mit der Gebrochenheit dieser Welt und auch seines eigenen Handelns kämpfte: „Dieses Leben ist nicht die Wohnung der Gerechtigkeit, sondern wir erwarten, sagt Petrus, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ Dass die Welt, so wie sie ist, irgendwann mal ganz in Ordnung sein wird, ist eine Utopie. Dass wir die Welt mit unserem Handeln zu einem gerechten Ort machen können, ist eine Wunschvorstellung. Dass wir bis zu unserem Tod einmal ganz zufrieden sein werden, ganz im Reinen mit uns und allen anderen, ist eine falsche Hoffnung.
„Dieses Leben ist nicht die Wohnung der Gerechtigkeit.“ Und doch können wir mit Gott im Reinen sein. Doch können wir mit ihm Frieden haben. Weil sein gerechter König, Jesus Christus, in diese Welt gekommen ist. Gott selbst hat für einen radikalen Neubeginn gesorgt. Er ist der Handelnde, der den Spross Davids erweckt hat, der durch seinen Tod am Kreuz für uns schon für Gerechtigkeit gesorgt hat. Durch den gerechten König Jesus Christus sind wir versöhnt mit Gott. Durch den gerechten König Jesus, haben wir die Möglichkeit als Gotteskinder zur Familie Gottes zu gehören. Unser Leben steht durch das Kommen, Sterben und Auferstehen des gerechten Königs unter einem neuen Vorzeichen. Das Minus hat Gott zu einem Plus gemacht.
Im Advent bereiten wir uns auf die Ankunft des gerechten Königs vor. Wir feiern und erinnern sie an Weihnachten. Und gleichzeitig warten wir auch über die Advents- und Weihnachtszeit hinaus noch auf ihn. So leben wir im Advent nicht nur auf die Erinnerung eines Ereignisses aus der Vergangenheit hin, sondern auch auf ein zukünftiges Geschehen. Auf das Wiederkommen Jesu. Denn in der Verheißung Jeremias steckt noch mehr drin, als das was sich bereits erfüllt hat. In der Botschaft Jeremias gibt es noch einen Verheißungsüberschuss. Es ist nicht nur geistlich gemeint, dass dieser König mit Recht und Gerechtigkeit herrschen wird, nein, das wird eines Tages tatsächlich so kommen. Und weil sich Teile der Verheißung bereits erfüllt haben, wissen wir, dass es nicht leere Worte, sondern feste Zusagen Gottes sind. Was Jeremia dem Volk verheißen hat, hat sich teilweise schon nach relativ kurzer Zeit erfüllt. Nach 70 Jahren konnte Israel aus dem Exil in die Heimat zurückkehren. Gott hat sein zerstreutes Volk tatsächlich zurückgeführt. Rund 500 Jahre später hat er Jesus, den gerechten König in die Welt gesandt, um für die Gerechtigkeit zwischen ihm und uns zu sorgen. Damit hat er einen radikalen Neubeginn in unserer Beziehung zu ihm ermöglicht. Deshalb können wir sicher sein, dass er auch den zweiten radikalen Neubeginn mit dieser Welt, der „neue Himmel und die neue Erde“ (Offenbarung 21,1) verwirklichen wird.
Und bis dahin? Wie leben und überleben bis zu diesem radikalen Neubeginn? Wie handeln wir bis zur Wiederkunft des gerechten Königs? Müssen wir uns dem Lauf der Dinge hingeben, gar kapitulieren vor der noch bestehenden Ungerechtigkeit?
Ich meine, wichtig ist, dass uns bewusst ist: Der Gott, der einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen kann und wird, ist jetzt auch schon präsent. Er lässt sich jetzt bitten. Er erhält die Welt. Er schafft auch im Hier und Jetzt immer wieder Gerechtigkeit und Verhältnisse, die helfen, dass wir in Frieden miteinander leben. Dazu braucht er uns zwar nicht, aber er will uns gebrauchen. Ja, wir sind es nicht, die jetzt schon alle Probleme dieser Welt lösen können. Wir werden immer wieder nur das Bestmögliche und nicht das Gute an sich tun können. Aber nur die Hände in den Schoß legen und passiv abzuwarten ist eben auch nicht dran. Wir können an unserem Platz dazu beitragen, dass Recht und Gerechtigkeit herrschen. Und wenn wir fehlen, wenn wir für Unfrieden oder Ungerechtigkeit verantwortlich waren oder sind, dann können wir das unserem Gott hinlegen. Der Theologe Helmut Thielicke sagt sogar, dass es in unserer gefallenen Welt Entscheidungssituationen geben kann, in denen jegliche Entscheidung, die wir treffen, der Vergebung Gottes bedarf. Auch damit müssen wir umgehen. Aber das muss uns nicht zum Verzweifeln bringen. Denn wir wissen: Unsere Fehler müssen nicht zwischen Gott und uns stehen. Dafür hat er mit seinem ersten Kommen in diese Welt bereits gesorgt.
„Siehe, es kommt die Zeit“ – wir warten auf den gerechten König. Wir erinnern uns, dass er einmal kam. Und wir erwarten, dass er wieder kommen wird. Und zwischen diesen zwei Erfüllungszeiten, lassen wir uns von Gott gebrauchen, ringen um die besten Entscheidungen und wissen um unsere Angewiesenheit auf seine Vergebung. Amen.
Die Predigt wurde im Gottesdienst am 28. November 2021, dem ersten Advent, in Ruit in der Auferstehungskirche gehalten.
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