Liebe Gemeinde,
„Achtung, nicht hinfallen.“ schreit die besorgte Omi ihrem kleinen Enkel, der über die Wiese rennt, hinterher. „Mach keinen Unfall,“ sagt der Vater zu seinem gerade erst volljährigen Sohn, wenn er ihm seine Autoschlüssel überlässt. „Bleiben Sie gesund“, rät mir Penny beim Einkaufen in Coronazeiten. Diese Aufforderungen, die grammatikalisch in der Befehlsform formuliert sind, changieren irgendwo zwischen Anweisung, Ratschlag und Wunsch. Alle sind mit Sicherheit gut gemeint, aber wenn man mal ganz nüchtern darüber nachdenkt, dann merkt man, dass sie kaum umsetzbar sind. Der Knirps, der gerade erst laufen gelernt hat, fällt mit oder ohne Ratschlag seiner Omi auf die Nase, weil er seine Schritte noch nicht wirklich kontrollieren kann. Der junge Autofahrer wird absichtlich keinen Unfall bauen und alles andere kann er nur schwer steuern und unsere Gesundheit – die haben wir erst recht nicht in der Hand. Trotzdem sind die Anweisungen aber nicht überflüssig. Denn eigentlich bringen sie nur ganz verkürzt zum Ausdruck, was einer dem anderen wünscht und oder für ihn hofft. Was die Omi sagen möchte ist: „Ich möchte nicht, dass du hinfällst. Du sollst dir nicht wehtun, weil du mir wichtig bist.“
Paulus gibt in seinen Briefen an die Gemeinden viele Anweisungen in der Befehlsform. Es geht ihm dabei darum, denen, die erst zum Glauben an Jesus Christus gekommen waren, das neue Sein zu erklären und das Zusammenleben unter Christen zu regeln. Ein solcher Abschnitt voller Anweisungen ist heute unser Predigttext: Ich lese aus dem 12. Kapitel des Römerbriefes die Verse 17-21. (à Bibel)
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Römer 12,12-21
Liebe Gemeinde,
ich denke, wir sind uns einig: wenn man diese Anweisungen befolgt, dann fordert das das gute Zusammenleben, dann stärkt das eine Gemeinschaft und das Miteinander wird deutlich friedlicher. Doch wenn wir die Kirchengeschichte von den ersten Christen bis zu unseren heutigen Gemeinden betrachten, dann scheint das manchmal gar nicht so einfach zu sein. Sind sie nicht letztlich so wenig umsetzbar wie „Fall nicht“ oder „Bleib gesund.“? – Gehören sie in diese Kategorie? Gut gemeint. Auf jeden Fall richtig. Aber kaum umzusetzen.
Schauen wir uns zunächst die sechs Anweisungen etwas genauer an:
Die erste Anweisung lautet: Vergeltet niemandem Böses mit Bösem
„Frau Stooß, der Paul hat mich gerade getreten.“ „Paul, komm mal bitte her. Warum hast du Tim getreten?“ „Ja, weil der mich zuerst geschlagen hat.“ „Ja, aber doch nur, weil du mir meine Trinkflasche weggenommen hast.“ „Ja, aber du hast gestern auch mein Mäppchen durchs Klassenzimmer geschmissen.“ – Ich breche an dieser Stelle ab. Diskussionen dieser Art erlebt man in der Grundschule öfter.
Ein Unrecht wird mit einem anderen Unrecht bergründet und alles schaukelt sich hoch. Das gibt es nicht nur bei Kindern. Das gibt es auch auf der weltpolitischen Bühne. Man denke nur an den Zollstreit und ähnliches.
So soll es unter Christen nicht zugehen. Das Böse soll in der Gemeinde, unter Glaubensgeschwistern keinen Raum gewinnen. Stattdessen, so die zweite Anweisung, sollen wir auf Gutes gegenüber jedermann bedacht sein. Hier geht es um unsere Einstellung unseren Mitmenschen gegenüber. Will ich den anderen prinzipiell Gutes, sind sie mir gleichgültig oder wünsche ich ihnen manchmal nicht sogar, dass sie auch mal in ein Fettnäpfchen tappen oder gar Schlimmeres? Es gilt die Motivation hinter unserem Tun und unsere Gedanken zu prüfen.
Die dritte Anweisung lautet: habt mit allen Menschen Frieden. Diese Anweisung versieht Paulus gleich mit einer Einschränkung: Wenn es möglich ist – wenn es in eurer Hand liegt. Paulus weiß, dass der totale Friede in unserer gefallenen Welt eine Utopie ist. Frieden zwischen allen wäre absolut wünschenswert, aber so lange die Sünde noch Raum in dieser Welt hat, wird es den totalen Frieden nicht geben.
Löwe und Lamm werden eines Tages friedlich beieinander liegen – so ist es uns verheißen. Es wird einmal einen wirklichen Weltfrieden geben, der sich sogar über das Tierreich erstreckt, aber das wird erst dann sein, wenn Jesus Christus wiederkommt und sein Reich zur Vollendung bringt. Bis dahin müssen wir das beste aus der Situation machen und für Frieden sorgen, wo es nur möglich ist. Wir müssen aber nicht verzweifeln, wenn wir es nicht immer schaffen. Ich bin sehr froh, dass Paulus die Realität nicht ausblendet und uns mit einer Art Weltfrieden-Utopie im Hier und Jetzt überfordert.
Die vierte Anweisung geht in eine ähnliche Richtung wie die erste: Rächt euch nicht selbst. Als Begründung beruft sich Paulus auf das Alte Testament. Er übergibt die Exekutive an Gott. Gott übernimmt das. Ganz anschaulich haben wir das vorhin in der Schriftlesung gehört. Joseph hat nach diesem Prinzip gehandelt. Er hätte die Macht gehabt, seinen Brüdern alles heim zu zahlen, was sie ihm angetan haben, aber stattdessen vergibt er ihnen und nimmt sich ihrer an. „Steht ich denn an Gottes statt?“, fragt er. Er ist sich bewusst, dass es Gottes Aufgabe ist, Rache zu üben und für Gerechtigkeit zu sorgen.
Die fünfte Aufforderung des Paulus ruft zur Feindesliebe auf: »Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« Paulus greift auch hier auf eine alttestamentliche Anweisung zurück. Die liest sich im ersten Moment so, dass man dem Feind zwar vordergründig Gutes tut, aber man dabei ein hinterlistiges Beschämen im Sinn hat. Darum geht es aber nicht. Sondern vielmehr darum, den anderen zum Nachdenken zu bringen. Automatisch wird jemand, der so behandelt wird, ins Nachdenken kommen. Denn echte Liebe entfaltet eine Macht.
Am Ende des Abschnitts wird Paulus mit seiner letzten Anweisung dann nochmal grundsätzlicher: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Hier geht es um die Fragen, wer Macht hat und wer in unseren Herzen und dann in unseren Gemeinden regiert. Das Böse und die Rache oder die Liebe, die Vergebung und der Friede, die von Christus kommen.
Manch einer von Ihnen hat jetzt vermutlich ein schlechtes Gewissen und denkt an Momente, in denen er in den letzten Tagen nicht gerade zum Frieden beigetragen hat. Die andere hat vielleicht schon direkt nach dem Lesen des Predigttextes innerlich abgeschalten, weil sie sich gedacht hat, dass das ja eh alles nur leeres Geschwätz oder utopisches Wunschdenken ist. Und wieder ein andere mag aber auch neu motiviert sein, sich die Anweisungen zu Herzen zu nehmen.
Die Aufforderungen des Paulus sind gut für jede Gemeinde. Immer wieder gilt es, sich an ihnen zu orientieren. Gleichzeitig verpuffen doch solche Appelle im Alltag oft ganz schnell wieder. Wir alle wissen, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dass uns die Umsetzung oft überfordert.
Letztlich ergeben sie nur Sinn, wenn wir den Zusammenhang in den Blick nehmen. Denn Christsein auf Gutmenschsein und Friedensbote sein zu beschränken, ist zu wenig. Ein moralisch und ethisch korrektes Leben ist nicht das Entscheidende. Die Moral kann immer nur der zweite Schritt sein. So haben alle moralischen Appelle nur ihre Berechtigung, weil Christen die Erneuerung in Christus gegeben ist. Weil wir DAS GUTE kennen und erfahren haben und wissen dass DAS BÖSE besiegt ist. Nur deshalb haben wir Kraft, so zu leben und zu handeln. Ohne das Evangelium ist jeder Aufruf zur guten Tat kraftlos. Er tut sonst nur das, was die meisten Religionen und Weltanschauungen tun – dem Menschen sagen, was er zu tun und zu lassen hat. Das ist aber zu wenig. Das Evangelium sagt nicht, was du zu tun hast, sondern was Gott für dich getan hat.
Deshalb baut Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Rom auch so auf, dass er ihnen zunächst noch einmal genau erklärt, was Jesus Christus für sie getan hat und was sein Tod und seine Auferstehung für sie bedeutet. Und dann zeigt er ihnen auf, welche Auswirkungen das neue Sein in Christus für ihr alltägliches Leben hat. Aus der Freude an der guten Nachricht erwächst die Liebe für die anderen.
Für mich heißt das in der Konsequenz zum einen, dass die moralischen Anweisungen nicht überflüssig sind.
So wie die Oma mit ihrem „Fall nicht“ auch den Wunsch zum Ausdruck bringt, dass dem Kleinen nichts passieren soll, erkennen wir durch die Anweisungen, Gottes Wunsch und Wille für unser Zusammenleben. Wir brauchen sie also. Zum anderen können wir sie aber nie vom Evangelium trennen. Bevor wir Menschen sagen, was sie tun haben, müssen wir ihnen sagen, was Christus für sie getan hat. Erst wenn das ein Herz berührt, kann es einen Menschen verändern und befähigen, echte Liebe, echte Vergebung und wirklich das Gute zu leben.
Oft stellt sich die Frage, warum in christlichen Gemeinden trotzdem noch Menschen in Unfrieden zusammenleben. Warum das Böse auch dort noch Raum hat. Meines Erachtens liegt das an zwei Dingen: Das eine habe ich vorhin bereits im Zusammenhang mit der dritten Anweisung angerissen: Wir leben in einer Welt, die seit dem Sündenfall gefallen ist – in der das Böse oder auch der Böse noch Raum hat. Das macht auch an der Kirchentür keinen Halt. Leider. Und gleichzeitig, das ist der zweite Punkt, liegt es auch daran, dass das Wesentliche, die Verkündigung der guten Nachricht von Jesus Christus, manchmal aus dem Fokus gerät.
Umso weniger Raum wir der guten Nachricht geben, umso mehr Raum gibt es für andere Dinge, die auch die Gemeinschaft und die Liebe unter uns Christen zerrütten können. Das Evangelium von Jesus Christus tut das nicht.
Darum, liebe Gemeinde, lassen Sie uns Christus im Zentrum unserer Gemeinde und in unserem Herz wohnen und regieren, und dann lassen Sie uns so miteinander umgehen, wie Paulus es schon damals den römischen Christen geraten hat.
Das Gute dabei ist, dass so wie die Omi ihrem Enkel nach dem Fallen hilft, wieder aufzustehen, so stellt uns auch Christus immer wieder auf die Beine, wenn wir mit unserem Tun nicht seinem Willen entsprechen. Seine Gnade und seine Barmherzigkeit haben kein Ende. Gott sei Dank. Amen.
Die Predigt wurde am 05.07.2020 in Waldenbuch gehalten.
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