Liebe Gemeinde,

haben Sie ein Vorbild? Ein Mensch, den Sie so bewundern, dass Sie gerne wären wie er? Eine Freundin erzählte mir neulich beispielsweise, dass sie gerne wäre wie Michelle Obama. Das sei eine total beeindruckende Frau. Gibt es für Sie auch jemanden, dessen Lebensstil Sie so beeindruckt, dass Sie versuchen, es ihm nach zu tun? Unser Predigttext für heute zeigt uns auf, an welchem Vorbild wir Christen uns orientieren sollen. Es ist das Vorbild des guten Hirten, der alles für seine Schafe gibt und dabei selbst zum Opferlamm wird. Ich lese aus dem 1. Petrusbrief im 2. Kapitel die Verse 21-25:

 21 Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; 22 er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; 23 der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet; 24 der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. 25 Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

1. Petrus 2,21-25

Christus hat uns ein Vorbild hinterlassen, dem wir nachfolgen sollen. Der Begriff, der hier mit Vorbild übersetzt wird, heißt wörtlich „Schreibvorlage“ und meint in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Vorlage, die Schüler nachgefahren haben, um Schreiben zu lernen.

Die Vorlage wird im Text genau beschrieben: Christus hat keine Sünde getan und über seine Lippen kam nie ein unwahres Wort. Er erwiderte die Schmähungen und Beschimpfungen nicht, die er erleiden musste und drohte seinen Widersachern und Peinigern trotz allen Leides nicht.

Die Passionswoche und Karfreitag sind noch nicht allzu lange her. Wir haben die Szenen von Festnahme, Verurteilung, Folter und Kreuzigung noch präsent. Christus wurde mit Dornenkrone und Purpurmantel verspottet, angespuckt und ins Gesicht geschlagen. Und obwohl er die Macht gehabt hätte, das Ganze zu beenden, ließ er das einfach über sich ergehen. Denn, so beschreibt es nun der Predigttext weiter, er überließ die Rache Gott, dem gerechten Richter.

Und weil Christus, der gute Hirte, so viel Leidenschaft für seine Schafe hat, weil er uns leidenschaftlich liebt, deshalb erleidet er das alles für uns. Petrus schreibt wörtlich: Jesus hat Pathos. Höchstes Mitgefühl, ganzes Einfühlen. Und deshalb gibt er alles für uns. Christus hat unsere Sünden am eigenen Leib an Kreuz hinaufgetragen, damit wir in Gerechtigkeit leben können. Der gute Hirte selbst lässt sein Leben für die Schafe. Er selbst wird zum Opferlamm. – Was für eine Schreibvorlage! Was für ein Vorbild! Welch große Fußstapfen, die uns da aufgetragen sind.

Schon beim ersten Punkt der Beschreibung Christi wird jedoch klar, dass die Fußstapfen zu groß für uns sind. Sündlosigkeit das ist für uns Menschen nicht machbar. Bei jedem weiteren Punkt wird es noch deutlicher und spätestens am Ende, wo Petrus den stellvertretenden Tod Jesu für unsere Sünden beschreibt, ist es eindeutig, dass wir diese Schreibvorlage nie nachschreiben werden können, dass wir nie sein werden wie Christus. Denn Christus ist nicht als ethisch und moralisch perfekter Mensch ein Vorbild, sondern als der, in dem Gott selbst da ist und in dem er selbst an der Welt und für die Welt leidet.

Wir werden deshalb nie so sein können wie Jesus Christus. Zwischen uns Menschen und Jesus Christus besteht ein kategorialer Unterschied: Jesus war zwar Mensch wie wir und doch war und ist er eben auch ganz Gott. Wir sind und bleiben Menschen. Er ist der Erlöser, wir sind erlösungsbedürftig. Im Bild gesprochen: Wir sind die Schafe und Jesus ist eben nicht nur das vorbildliche Muster-Streber-Schaf- nein – er ist der Hirte.

Jesus Christus ist mehr als ein Vorbild. Petrus ist sich mit Sicherheit des kategorialen Unterschieds bewusst. Und trotzdem weist Petrus seine Gemeinde an, in seinen Fußstapfen zu gehen. Trotzdem sind auch wir angewiesen, Christus nachzufolgen. Dabei geht es, meine ich, um zwei Dinge: um eine Haltung und um Orientierung.

Zum ersten, der Haltung. Wir sollen uns in Christus ein Vorbild nehmen, wie wir mit Ungerechtigkeit umgehen und wie wir reagieren, wenn uns Unrecht widerfährt. Für die Gemeinden, an die Petrus seinen Brief ursprünglich geschrieben hat, war die Erfahrung von Ungerechtigkeit und Leid vor allem wegen ihres Glaubens alltäglich. Sie lebten als Christen in einer Verfolgungssituation.

Wir erleben hier Gott sei Dank keine Unterdrückung oder Schmähung wegen unseres Glaubens. Aber Ungerechtigkeit kennen wir dennoch. Vielleicht empfinden viele von uns gerade in diesen Tagen die Verbote und Einschränkungen als besonders ungerecht. Ist es nicht ungerecht, dass Läden wieder öffnen dürfen, wir aber keine Gottesdienste hier in der Kirche feiern dürfen? Ist es nicht ungerecht, dass mein Kollege bei vollem Gehalt freigestellt ist, nur, weil er ein paar Jahre älter ist, und ich immer noch arbeiten muss? Und ist es nicht unfair, dass ich das Homeoffice und meine Kinderbetreuung jonglieren muss, nur, weil ich scheinbar nicht systemrelevant bin? – Im Vergleich mit Christen in Verfolgungssituationen sind diese Ungerechtigkeiten Lappalien, und dennoch müssen wir sie ertragen und mit ihnen umgehen.

Christus selbst hat das größte Unrecht erlitten. Er kann also mit uns mitfühlen – im kleinen und im großen Unrecht. Christus, der vorbildliche Hirte dachte nicht an sich, sondern an seine Schafe. Wenn ich ihm nachfolge, dann muss ich auch meinen Egoismus ablegen und mich nicht mehr um mich drehen.

Dabei müssen wir das, was uns aufregt und ärgert nicht nur runterschlucken und ertragen, wir können es stattdessen Gott überlassen. Wie das gehen kann, zeigen uns zum Beispiel viele Psalmen. Das, was einen ärgert, wird nicht totgeschwiegen. Vielmehr wird es Gott entgegen geschrien. Die Rache an den Widersachern wird aber nicht selbst in die Hand genommen. Sie wird Gott überlassen. So macht es auch Christus. So erträgt er alles. Und so ist es auch uns möglich, mit Ungerechtigkeit und unfairer Behandlung umzugehen.

Neben der Haltung geht es bei der Nachfolge Jesu auch um Orientierung: Petrus schreibt: Ihr wart wie irrende Schafe, aber seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht so genau, was passiert, wenn ein Hirte eine Schafherde einfach stehen lässt und sich mit seinen Hunden zurückzieht. Aber ich denke, dass spätestens, wenn ein Rudel Wölfe oder eine andere Gefahr auftaucht, die Herde in alle Richtungen auseinanderspringt und danach orientierungs- und schutzlos durch die Gegend irrt. Wer sich aber am Hirten orientiert, wer seinen Fußstapfen nachfolgt, der hat Orientierung.

Der ist auch im tiefen Tal nicht allein und selbst im Angesicht der Feinde kann er sich der guten Fürsorge des Hirten sicher sein. Äußerlich und vor allem auch innerlich, um unsere Seelen, sorgt sich der gute Hirte. Ich meine, auch und gerade in diesen Tagen, die von Ungewissheit und vielen Fragezeichen geprägt sind, brauchen wir einen guten Hirten mehr denn je. An dem wir uns orientieren können. Der mitgeht. Auf dessen Fürsorge wir uns gewiss verlassen können. Und der sich auch um unsere Seelen kümmert. Um unsere Sorgen und Ängste, die uns belasten, um das Gefühl des Alleinseins, das uns traurig macht, und um unsere innere Unruhe.

Nachfolge bleibt ein lebenslanges Lernen für uns Christen. Ständig werden wir neu die Schreibvorlage nehmen und nachzeichnen. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen müssen wir sie herausholen und fragen, was es unter den gegebenen Umständen heißt, nachzufolgen.  Und auch, wenn wir nie in die Fußstapfen Christi reinpassen werden, so ist es doch gut, dass er uns vorausgegangen ist. Denn jeder, der schon einmal im Tiefschnee gewandert ist, weiß, dass es sich so viel leichter läuft, wenn schon Spuren da sind.

Zum einen weiß man, wo man hinlaufen muss und zum anderen kostet es viel weniger Kraft. Jesus Christus ist uns als guter Hirte den Weg vorausgegangen, der zum ewigen Leben führt. Er lädt uns ein, ihm zu folgen. Dabei kommt es nicht darauf an, wie gut wir die Schreibvorlage nachzeichnen können. Durch seine Hingabe sind wir bereits gerecht, das heißt freigesprochen. Durch seine Wunden sind wir bereits heil geworden. Es geht darum mit dem besten und fürsorglichsten und einzig wahren Hirten unterwegs zu sein. Besser können Schafe nicht leben –  und nicht sterben.

„Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“

Johannes 10

Amen.

Die Predigt wurde in einem Online-Gottesdienst am 24.04.2020 in Waldenbuch gehalten.

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