Liebe Gemeinde,
wer war oder ist Jesus für Sie? Ein faszinierender Mensch? Ein Vorbild? Ein leicht verrückter Wanderprediger? Ein Spinner und Wichtigtuer? Ein Wunderheiler? Ein göttlicher Mensch oder sogar Gott selbst?
An dieser Frage scheiden sich bis heute die Geister. Für sich selbst eine Antwort auf sie zu haben, ist entscheidend. Denn je nach dem, wie wir die Frage beantworten, müssen wir Jesus Autorität und Macht einräumen oder auch nicht. Von unserer Antwort auf diese Frage hängt ab, welche seiner Taten von damals wir für wahr halten und auch, was wir heute noch von ihm erwarten.
Für den Schreiber des Johannesevangeliums war die Sache ganz klar: Jesus Christus ist wahrer Gott und ganz Mensch. Auch in unserem heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium wird das deutlich.
Jesus ist Mensch und unter den Menschen und gleichzeitig ist er Gott, was sich in seinem Reden und Handeln zeigt.
Ich lese aus Johannes 5 die Verse 1-16:
1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
Johannes 5, 1-16
2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
3-4 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank.
6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag.
10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.
11 Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
12 Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.
14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.
An drei Aspekten dieser Begebenheit wird deutlich, dass Jesus nicht nur ein besonderer Mensch war. Nein, Jesus trat mit göttlicher Autorität und Vollmacht auf. Jesus ist Gott – die drei Aspekte, an denen das zu erkennen ist, werden wir uns nun genauer anschauen. Der erste ist:
Jesus ist Gott – deshalb kann er Kranke heilen.
Jesus war aufgrund eines jüdischen Festes nach Jerusalem gekommen. Statt aber groß zu feiern und Spaß zu haben, begibt er sich ins Elend. Fünf Hallen voller Kranker, Blinder, Lahmer und Ausgezehrter. Da hätte er auch einen Bogen drumrum machen können. Aber Jesus geht hin und sieht die Menschen, die da teilweise schon jahrelang leiden und ohne Hoffnung vor sich hinsiechen. Jesus ist Gott und genau deshalb macht er als Mensch keinen Bogen um die Leidenden und Kranken. Stattdessen nimmt er sich ihrer an.
Und dabei sieht er den einzelnen. So geht er konkret auf einen Mann zu, der schon 38 Jahre lang krank ist und fragt ihn:
Willst du gesund werden?
Johannes 5, 6
Eine Frage, die zunächst sehr seltsam klingt. Ja, es ist fast schon eine beleidigende Frage an einen kranken Menschen. Man könnte meinen, er habe sich seine Krankheit und sein Leid selbst ausgesucht und letztlich fehle ihm nur der Wille, um gesund zu werden.
Stellen kann diese Frage nur einer, der auch die Macht hat, die Situation des Mannes zu ändern und ihm Gesundheit zu schenken. Nur wenn der Gefragte mit Ja antworten kann und der Fragende ihm dabei helfen kann, ist die Frage gerechtfertigt.
Jesus ist also entweder ein unsensibler und unverschämter Gaffer oder er deutet mit seiner Frage schon an, dass er etwas an der Situation des Kranken ändern kann.
Der Kranke antwortet jetzt aber nicht einfach mit Ja oder Nein. Stattdessen erzählt er seine Leidensgeschichte. Seine Hoffnung hatte er auf das heilende Wasser des Teiches gesetzt. Das Wasser galt als heilkräftig, während es immer wieder kurze Zeit durch periodisch auftretende Quellen sprudelte. Jedoch war der Kranke immer zu langsam. Niemand half ihm, ins Wasser zu kommen. Er war nicht nur krank, er war auch einsam. Krankheit macht oft einsam. Aus seiner Antwort klingt viel Resignation. Er hatte sich wohl mit seinem Schicksal irgendwie abgefunden. Die Frage Jesu scheint er gar nicht richtig gehört zu haben. Er bittet Jesus nicht einmal, ihm ins Wasser zu helfen.
Jesus wiederum geht nicht auf die Antwort des Kranken ein. Nicht auf seine Einsamkeit, nicht auf seine Hoffnungslosigkeit und nicht auf das heilsame Wasser. Stattdessen gibt er ihm drei konkrete Anweisungen: Steh auf. Nimm dein Bett. Geh hin.
Das ist ein schöpferischer Befehl, der das Unmögliche, das er fordert selber erst möglich macht. Denn da geschah das Wunder. Durch das wirkmächtige Wort Jesu wurde der Kranke geheilt. Er stand auf, nahm sein Bett und ging hin. So wirkmächtig wie Gott am Anfang durch sein Wort alles geschaffen hat, so wirkmächtig ermöglicht Jesus dem Kranken ein neues Leben durch sein Wort. Jesus ist Gott und als solcher hat er Macht über Leben und Tod, über Krankheit und Gesundheit.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, wenn das so ist, warum sieht Jesus dann mich und mein Leiden nicht? Warum fragt er mich nicht, ob ich gesund werden will? Warum heilt er mich, meinen Angehörigen oder meine Freundin nicht?
Das werden sich die anderen Kranken und Leidenden in den Hallen auch gefragt haben. Warum der und ich nicht? Der Text gibt uns auf diese Fragen keine Antwort. Und auch ich kann Ihnen das Warum nicht beantworten. Ich bin überzeugt und habe es auch erlebt, dass Jesus auch heute noch Menschen auf wunderbare Weise heilt. Aber er tut es nicht immer. Warum manche das sofort erleben dürfen, manche 38 Jahre warten müssen und wieder andere nicht von ihren Leiden geheilt werden, weiß ich nicht.
Ich persönlich finde es aber tröstlich, dass Jesus zu den Leidenden geht und am Kreuz selbst das größte Leid erfahren und erlitten hat. Er kann als Mensch mit uns Menschen voll mitleiden.
Und es macht mir Hoffnung, dass eines Tages, wenn Jesus wiederkommt, tatsächlich alles Leid und alle Krankheit vorbei sein wird. Ein Vorgeschmack auf diesen endgültig heilvollen Zustand erfahren wir schon trotz allem Leid im Hier und Jetzt und damit komme ich zum zweiten Punkt:
Jesus ist Gott – deshalb kann er Sünden vergeben.
Nach der Heilung kommt es zu einer weiteren Begegnung zwischen Jesus und dem nun gesunden Mann. Er findet ihn im Tempel. Bei diesem zweiten Treffen stellt Jesus ihm keine Frage. Er gibt ihm einen Ratschlag: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Je nach dem, mit welchem Ohr man hinhört, kann man auch eine Drohung in diesen Worten hören. Krankheit als Strafe für Sünde? An anderer Stelle im Johannesevangelium macht Jesus klar, dass es so einfach nicht ist. Wenn ein Mensch krank ist, dann darf das nicht auf seine Vergehen zurückgeführt werden.
Die Sündhaftigkeit eines Menschen sieht man nicht an seinem Gesundheitszustand. Vermutlich wären wir sonst alle schwerkrank.
Und doch gibt es einen Zusammenhang zwischen der Sünde und der Krankheit und dem Leid in der Welt. Denn Sünde ist nicht nur eine einzige Tat, Sünde ist das, was uns von Gott, unserem Schöpfer trennt. Sünde ist all das, was zwischen Gott und uns Menschen eine tiefen, dunklen und unüberbrückbaren Graben gräbt. Der Graben ist durch den Sündenfall aufgerissen und trennt seitdem die Menschen von ihrem Schöpfer. Die Folge der Sünde ist der Tod und alles, was dazugehört. Das heißt, nicht die konkrete Sünde eines einzelnen führt zu Krankheit oder Elend. Aber dass die Sünde in der Welt ist, ist die Ursache für Krankheit und Leid.
Jesus überwindet durch die Heilung des Kranken die Auswirkungen der Sünde. Er lindert sozusagen die Symptome. Dass er den Kranken auffordert, nicht mehr zu sündigen, verweist uns aber auch auf die Ursache. Es zeigt, dass er die Ursache auch angehen kann.
Jesus bekämpft nicht nur die Auswirkungen und Symptome der Trennung von Gott, er hat auch die Macht, den Graben zu überbrücken. Er heilt die Beziehung zwischen Gott und uns Menschen. Weil Jesus Gott ist, hat er die Macht ganzheitlich zu heilen und die Trennung zwischen Gott und uns Menschen zu überwinden. Jesus ist Gott – deshalb kann er Sünden vergeben.
Diese Heilung können wir alle schon jetzt erfahren. Zum Beispiel wenn wir nachher das Abendmahl feiern. Jesus macht deine Beziehung zu Gott wieder heil. Wie er den Kranken gefragt hat, so fragt er auch dich: Willst du gesund werden? Willst du bei mir alles ablegen, was dich von Gott trennt? Ich will die deine Last und Schuld abnehmen und deine Beziehung wieder heil machen. Aus dieser heilen Beziehung zu Gott, kannst du Kraft schöpfen, auch alle Auswirkung der Sünde, mit der du in der Welt noch kämpfen musst, zu tragen.
Jesus Christus heilte damals Menschen an Leib und Seele und kann auch uns heute noch ganzheitlich heil machen. Und trotzdem oder auch gerade deswegen sind nicht alle begeistert von ihm. Und damit komme ich zum dritten und letzten Punkt:
Jesus ist Gott – deshalb stoßen sich die Menschen an ihm.
Jesus heilte den kranken Mann am Shabbat. Damit setzte er sich über die jüdischen Shabbatvorschriften hinweg. Die Schriftgelehrten hatten das Gebot der Tora, das Arbeit am Shabbat verbietet, mit genauen Regeln und Details gefüllt. Sie hatten genau festgelegt, was als verbotene Arbeit gilt. Mit seinem Tun und seiner Anweisung an den Kranken setzte sich Jesus über diese Regeln hinweg. Er machte sich zum Herrn über den Shabbat. Das war den Schriftgelehrten ein Dorn im Auge, weil es ein Zeichen seiner göttlichen Souveränität war. Jesus erhebt auch hier mit seinem Tun den Anspruch, Gott gleich – ja, Gott selbst zu sein.
Im Anschluss an unseren Textabschnitt formuliert er diesen Anspruch auch noch konkret. Er nennt Gott seinen Vater und setzt sein Tun in Verbindung zu Gottes Wirken. Johannes erklärt uns den Anstoß, den die Juden an ihm nahmen, dann so: Darum trachteten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich.
Bis heute stoßen sich die Menschen an Jesus. Als Vorbild und guten Menschen in einer Reihe mit Gandhi, Martin Luther King, Mutter Theresa und dem Dalai Lama ist er für die meisten okay. Aber sein Anspruch, als Gottes Sohn und damit Gott selbst hier bei uns auf der Erde gewesen zu sein, stößt vielen auf. Diktatoren und Machthabern weltweit macht dieser Anspruch bis heute Angst. Wie die Schriftgelehrten damals bangen sie um ihre Macht und Autorität, die gegenüber der göttlichen immer nur zweitrangig sein kann. Unter anderem deshalb verfolgen sie die Anhänger Jesu radikal und brutal.
Das ist bei uns, Gott sei Dank, nicht der Fall. Aber auch in unserer Gesellschaft stoßen sich die Menschen an Jesus. Denn sein Anspruch beißt sich mit dem Zeitgeist, der alle Religionen als gleich wahr auf den gleichen Nenner bringen will. Dass Gott Mensch geworden ist, ist aber etwas Einmaliges. Etwas Vergleichbares finden wir in keiner anderen Religion. Nur in Jesus Christus hat sich das ereignet. Jesus Christus ist Gott und deshalb führt auch kein Weg an Jesus Christus vorbei zu Gott. Ein Anspruch, der uns als seine Nachfolger nicht überheblich oder stolz machen sollte, aber einer, den wir ernst nehmen müssen und in allen interreligiösen Dialogen nicht vergessen sollten.
Jesus Christus ist ganz Mensch und ganz Gott – deshalb haben wir allen Grund, Hoffnung zu haben. Auch in scheinbar aussichtslosen Situationen. Auch wenn Krankheit, Einsamkeit und Schuld uns belasten. Voll Vertrauen können wir uns mit den Worten Jeremias an ihn wenden:
Heile du mich, HERR, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.
Jeremia 17, 14
Amen.
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Die Predigt wurde am 27. Oktober 2019 in der Stadtkirche St. Veit in Waldenbuch gehalten.
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