Liebe Gemeinde,
heute an Karfreitag ist unser Blick ganz aufs Kreuz gerichtet. Auf das Kreuz, an dem Jesus Christus gelitten hat und gestorben ist. In nahezu jeder Kirche findet sich eine Darstellung dieser Szene. Sie alle zeigen das gleiche Ereignis und doch unterscheiden sie sich. Manche sind ganz auffällig anders, andere im Detail besonders. Sie alle beleuchten den Tod Jesu am Kreuz aus ihr jeweils eigenen Perspektive. Dabei trifft keine Darstellung das ganze Geschehen. Denn das, was da vor knapp 2000 Jahren passiert ist, ist eine vielschichtige Geschichte. Jede Darstellung hat ihre Berechtigung und zeigt uns einen Teil der Wahrheit. Zusammen und in Ergänzung eröffnen sie uns einen breiteren Blick, ja ein tieferes Verständnis von dem, was sich da auf Golgatha ereignet hat. Aus diesem Grund benutzt auch die Bibel verschiedene Bilder und Erklärungen, um die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu zu beschreiben. Auch in ihr wird der Tod Jesu aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.
Was sehen Sie, wenn Sie das Kreuzesgeschehen betrachten?


Wenn ich ans Kreuz sehe, dann denke ich…

Auch der heutige Predigttext führt diesen Satz weiter. Auch er versucht, zu erklären, was da geschehen ist. Er steht im Hebräerbrief. Der Schreiber des Hebräerbriefes setzt für seine Deutung bei der Person von Jesus Christus an. Er beschreibt, wer Jesus Christus war und leitet daraus die Bedeutung seines Todes ab. Generell arbeitet und argumentiert der Autor des Briefes viel mit Kategorien aus dem Alten Testament. Das spiegelt sich auch in unserem heutigen Predigttext wider. Er hat erkannt, dass das, was da am Kreuz geschehen ist, von Gott in der Geschichte mit seinem Volk bereits angelegt und vorbereitet worden war. Mit der Sendung Jesu in die Welt knüpft Gott an diese Geschichte an und schreibt sie weiter. Das Leben und Sterben Jesu kann also nicht unabhängig von Gottes Handeln mit seinem Volk, wie es im Alten Testament berichtet wird, verstanden werden kann.
Wir werden nun durch die Brille des Hebräerbriefes aufs Kreuz schauen. Ich glaube, dass diese Perspektive unseren Blick weiten und unser Verständnis vertiefen kann.
Ich lese aus Hebräer 9 die Verse 15 und 26-28:

15 Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, auf dass durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
26b Nun aber, am Ende der Zeiten, ist er ein für alle Mal erschienen, um durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
27 Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht:
28 so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal erscheint er nicht der Sünde wegen, sondern zur Rettung derer, die ihn erwarten.

Hebräer 9, 15+26b-28

Wenn wir aus der Perspektive unseres Predigttextes ans Kreuz blicken, dann sehen wir drei Dinge: Wir sehen zum einen den Mittler des neuen Bundes. Dann sehen wir ein irgendwie besonderes Opfer. Und wir sehen ein einmaliges Geschehen. Aus diesen drei Blickrichtungen werden wir nun auf den Text und vor allem auf das Kreuz schauen:
Wir beginnen mit dem Begriff, der uns vermutlich am nächsten liegt. Opfer. Ja, wenn man ans Kreuz schaut, kann man denken: „So ein Opfer.“ Je nachdem, wie man das sagt, meint man dann unterschiedliche Dinge. Sagt man es abfällig und bemitleidend, dann sieht man in Jesus einen hilflosen Verlierertyp, der letztlich mit seiner Mission gescheitert ist. Das war die Perspektive derjenigen, die am Kreuz vorbeigingen und Jesus verspotteten, wie wir es vorhin in der Schriftlesung gehört haben: „Du wolltest den Tempel doch in drei Tagen abreißen und aufbauen. Komm doch runter und hilf dir selbst. Du Opfer!“ – Ein Opfer in diesem Sinne war Jesus aber nicht. Sein Tod war kein Scheitern. Wer Jesus als Verlierer sieht, der hat bei aller Vielschichtigkeit des Geschehens die Bedeutung seines Todes missverstanden.
Der Hebräerbrief sieht in Jesus keinen Verlierertypen, sondern ein souveränes Opfer. Er ist als Opfer nicht nur passiv und lässt alles wehrlos über sich ergehen – nein, er gibt sich selbst hin. Er ist selbst Handelnder, weil er es zulässt. Er lässt sich anspucken, auspeitschen, demütigen und ans Kreuz nageln. Nicht weil er sich nicht wehren konnte, sondern weil er sich nicht wehren wollte. Jesus ist kein hilfloses Opfer, sondern einer, der sich aufopfert.
Im Kontext unseres Predigttextes macht der Hebräerbrief die besondere Rolle Jesu deutlich, indem er sein Selbstopfer mit dem alttestamentlichen Opfer am großen Versöhnungstag vergleicht. Jedes Jahr an diesem Tag musste der Hohepriester im Allerheiligsten zwei Ziegenböcke für die Sünden des Volkes darbringen. Ein Ziegenbock wurde als Schlachtopfer dargebracht, der andere wurde stellvertretend mit den Vergehen Israels beladen und in die Wüste gejagt. Jesus verbindet als Opfer beide Rollen. Indem er sich selbst darbringt, nimmt er die Rolle des Hohepriesters und die des Opfertieres ein. Dabei ist sein Selbstopfer von einer ganz anderen Kategorie. Während der Hohepriester mit seinem Opfer nur die vorsätzlich begangenen Sünden des Volkes Israels von einem Jahr tilgen konnte, stirbt Jesus für die Sünden aller Menschen zu allen Zeiten ein für alle Mal. Denn sein Opfer hebt das Grundproblem an sich, das heißt die Trennung zwischen Gott und uns Menschen auf. Am Kreuz nimmt er alles auf sich, was zwischen uns und Gott steht. Jesus macht sich selbst zum Opfer, dass wir nicht zu Opfern unserer eigenen Schuld-Verstrickungen werden.
Durch seine Selbsthingabe befreit er uns von unseren Sünden. Wie der Hohepriester dem Ziegenbock stellvertretend alle Schuld des Volkes aufgeladen hat, trägt Jesus am Kreuz stellvertretend all unsere Schuld. 
So schaut der Hebräerbrief ans Kreuz und ruft voller Bewunderung und Ehrfurcht aus: „Wow, was für ein einmaliges und geniales Opfer.“
Und damit kommen wir zu einer weiteren Perspektive. Das Kreuzesgeschehen ist ein einmaliges Geschehen. Während der Hohepriester den Opferritus jährlich am Versöhnungstag wiederholen musste, stirbt Jesus am Kreuz ein für alle Mal. Kein anderes Buch der Bibel betont das so oft wie der Hebräerbrief. Der einmalige und einzigartige Tod Jesu hat eine verändernde Wirkung, die bestehen bleibt. Die Brücke zwischen Gott und uns Menschen ist wieder gebaut und kann nicht mehr eingerissen werden.  Die Sünde ist überwunden. Es ist kein weiteres Opfer mehr nötig. Deshalb sieht der Hebräerbrief Christus bei seinem zweiten Kommen auch in einer anderen Rolle, nämlich in der des Anwaltes. Nach dem Predigttext wird jeder Mensch nach seinem Tod vor Gericht erscheinen müssen. Christus wird dabei als Anwalt all derer auftreten, die ihn erwarten. Das sind diejenigen, die nicht versuchen werden, sich im Gericht selbst rauszureden und stolz auf ihr Tun und Leben verweisen, sondern stattdessen nur auf Christus, ihren Retter vertrauen. Der wird kommen und sagen: „Die Strafe für diesen Menschen habe ich ein für alle Mal am Kreuz auf mich genommen. Er ist damit erlöst und gerettet. Weil er sich auf mich beruft, deshalb sind alle Anklagepunkte nichtig.“ So gibt uns der Blick auf den Gekreuzigten an Karfreitag Hoffnung über unseren eigenen Tod hinaus. Wir können uns ewig auf dieses einmalige Geschehen am Kreuz verlassen und berufen.
Und so kommen wir nun zur dritten und letzten Betrachtungsweise des Kreuzes aus unserem Predigttext. Jesus ist der Mittler des neuen Bundes. Mit seiner Doppelrolle des Opfers und des Opfernden verbindet sich eine zweite Doppelrolle, die ihn zum Mittler macht. Jesus war ganz Mensch und ganz Gott. Und nur weil er beides war, hat sein Tod eine vermittelnde, eine die Trennung zwischen Gott und uns Menschen überbrückende Funktion. Als Mensch war er uns Menschen ganz gleich und konnte deshalb stellvertretend für alle Menschen sterben. Denn Stellvertretung setzt Gleichheit voraus. Als Gott hat er souverän entschieden, das für uns Menschen unlösbare Problem selbst in die Hand zu nehmen und endgültig durch seine Selbsthingabe zu lösen. Die Brücke zwischen uns und Gott musste von göttlicher Seite aus gebaut werden. Und so kam Gott in Jesus als Vermittler auf uns zu und hat die Trennung endgültig überwunden.
Was er vermittelt, ist der neue Bund. Wir kennen diese Formulierung vom Abendmahl. Jesus selbst benützt diese Worte bei der Einsetzung des Abendmahls. Auch nachher werden wir es wieder hören:

Das ist mein Blut des neuen Bundes, das für euch und viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.

Auszug aus den Einsetzungsworten zum Abendmahl, Matthäus 26, 28

Durch seinen Tod hat Jesus den neuen Bund vermittelt und besiegelt. Dieser neue Bund hatte Gott durch den Propheten Jeremia bereits ankündigen lassen und mit diesem zwei Dinge verheißen: Zum einen eine Veränderung der Herzen und zum anderen die Vergebung von Sünde und Schuld. Die Verheißung ist mit dem Kreuzestod Jesu in Erfüllung gegangen. Es ist die Unterschrift und Besiegelung Gottes, dass er wie es in unserem Predigttext heißt zu seinen Berufenen steht. Was Gott verspricht, das löst er ein. Gott ist treu. Auf seine Zusagen ist Verlass. Auch das können wir am Kreuz erkennen.
Über die Vergebung habe ich bereits gesprochen. Daher noch ein paar Sätze zur Veränderung der Herzen. Mit dem neuen Bund will Gott selbst seinem Volk sein Gesetz in ihr Inneres legen und es auf ihr Herz schreiben, wie es bei Jeremia heißt. Das Gesetz Gottes lässt sich im ersten Gebot zusammenfassen: „Ich bin der Herr dein Gott.“ Die Folge der Herz-OP Gottes ist also, dass alle mit dieser veränderten Herzenshaltung Gott als ihren Herrn erkennen werden. Und diese Erkenntnis bleibt nicht ohne Folgen. Sie ist vielmehr lebensverändernd. Wenn Gott als der Herr erkannt wird, ordnen sich Prioritäten ganz neu. Diese Neuausrichtung verändert den Umgang mit anderen Menschen, mit der Schöpfung, mit Geld und Zeit, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Letztlich ändert diese neue Herzenshaltung alles.  Lassen wir Gott an unser Herz? Lassen wir diese Veränderung in uns zu?
Der Schreiber des Hebräerbriefes wollte mit seinem Brief genau das bei seinen Lesern bewirken. Er wollte, dass sie Gott wieder mehr Raum in ihrem Herzen geben. Er wollte bei ihnen neue Begeisterung für den Glauben wecken. Das erste Feuer der Christen war verflogen. Im Kopf waren sie Christen, aber in ihren Herzen brannte das Feuer des Glaubens nur noch auf Sparflamme. Indem der Schreiber seinen Lesern das Heilswerk Christi, die Bedeutung seines Sterbens vor Augen malt, will er sie in ihrer Trägheit wachrütteln. Der Blick aufs Kreuz soll ihren Glauben neu entfachen. Kann das auch bei uns heute passieren, wenn wir das Kreuz betrachten?
Was siehst du, wenn du auf das Kreuz schaust? Was bedeutet es für dich, dass Jesus Christus am Kreuz gestorben ist?
Wenn wir gleich gemeinsam das Abendmahl feiern werden, dann sind Sie eingeladen, die Hingabe Jesu ganz persönlich zu erleben und zu schmecken. Ich glaube, dass dieses einmalige Geschehen damals am Kreuz uns auch heute noch ergreifen und verändern kann.

Amen.

Die Predigt wurde an Karfreitag, den 30. März 2018, in der Stadtkirche St. Veit in Waldenbuch gehalten.
Category
Tags

No responses yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert