Liebe Gemeinde,
unser heutiger Predigttext steht in der Apostelgeschichte im 12. Kapitel. Ich lese zunächst die Verse 1-5:
1 Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln.
Apostelgeschichte 12, 1-5a
2 Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
3 Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.
4 Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Abteilungen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Passafest vor das Volk zu stellen.
5 So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten;
Da ist Petrus. Einst als Jünger mit Jesus unterwegs. Dann für Jesus unterwegs, um seine Tod und seine Auferstehung zu verkündigen. Und jetzt aufgrund seines Glaubens an Jesus Christus im Gefängnis des Herodes. Bestens bewacht. Im Gegensatz zu Jakobus kann er ja froh sein, dass er noch lebt. Aber das auch nur, weil es bei ihm zu einem richtig schönen Schauprozess kommen soll. Herodes will sich bei dem Volk beliebt machen. Gezielte Machtpolitik ohne Rücksicht auf die Opfer. Ohne fairen Prozess. Petrus geht davon aus, dass seine Stunden nun gezählt sind.
Da ist ein junger Mann. Eigentlich im besten Alter. Aber seit einem tragischen Sportunfall ist er querschnitzgelähmt. Gefesselt an seinen Rollstuhl. Rund um die Uhr abhängig von anderen, die ihm bei ganz alltäglichen Dingen helfen müssen. Nichts mehr ist so wie es vorher war.
Da ist eine ältere Frau. Sie ist gefangen in ihrem Alltag, in ihren Ängsten und Sorgen. Ihr Mann ist dement. Rund um die Uhr muss sie sich um ihn kümmern und das obwohl die eignen Kräfte immer weniger werden. Wie kann es weitergehen? Wird die Rente und das Angesparte für einen Platz im Pflegeheim reichen? Oder muss die hart erarbeitete Wohnung wirklich verkauft werden? Alles wird doch von Tag zu Tag nur noch schlimmer. Von der Politik und der Gesellschaft fühlt sie sich im Stich gelassen.
Da ist ein Mann Mitte 40. Er ist gefangen in seiner Sucht. Am Anfang waren er nur ein zwei Bier am Feierabend, um mit dem ganzen Stress und Druck auf der Arbeit zurecht zu kommen. Doch irgendwann hat das nicht mehr gereicht, um abzuschalten. Er brauchte immer mehr Alkohol, bis er schließlich gar nicht mehr ohne sein konnte. Seine Ehe hat das nicht überlebt. Die Frau und die Kinder sind mittlerweile weg. Das Verlangen, im Alkohol alle Sorgen zu ertränken, ist geblieben.
Da ist eine junge Frau aus Nigeria. Sie ist nach Europa aufgebrochen, weil sie sich ein besseres Leben erhofft hat. Weil ihr von den Schleusern und anderen ein besseres Leben versprochen worden ist. Jetzt steht sie jeden Abend auf dem Straßenstrich in Turin, gefangen im gnadenlosen System der Zwangsprostitution. Wie sie da jemals wieder rauskommen soll, ist ihr unklar. Die Drogen helfen ihr, einfach nur zu funktionieren.
Ich lese den zweiten Teil unseres Predigttextes:
5 So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.
Apostelgeschichte 12, 5-11
6 Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.
7 Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen.
8 Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!
9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.
10 Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Gasse weiter, und alsbald verließ ihn der Engel.
11 Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.
Da steht Petrus nun. In einer Gasse in Jerusalem. Ohne Fesseln. Ganz frei. Er atmet die frische Luft der Morgendämmerung ein. Er reibt sich die Augen. Was passiert war, begreift er erst langsam. Er hatte seine Befreiung wie in Trance erlebt. Der Engel ist nun nicht mehr bei ihm. Aber er ist sich gewiss, dass es ein Gesandter von Gott war, der ihn aus dem Gefängnis herausgeholt hat. Vor einer halben Stunde hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Ob Petrus da in seiner Gefängniszelle mit Gottes Eingreifen noch gerechnet hatte? Wir wissen es nicht.
Von der Gemeinde wird uns berichtet, dass sie ohne Aufhören für Petrus gebetet hat. Die scheinen noch Hoffnung gehabt zu haben. Aber ob sie wirklich geglaubt haben, dass das ihr Beten etwas bringt? Jakobus hatte es ja auch nichts gebracht. Ihn hatte Gott nicht vom Schwert gerettet. Warum sollte Gott dann bei Petrus rettend eingreifen? Doch scheinbar ließ sich die Gemeinde nicht entmutigen. Sie betet und hofft. Das beeindruckt mich.
Und die Hoffnung der Gemeinde wird nicht enttäuscht. Gott wirkt wunderbar und befreit Petrus. Er schickt seinen Engel in das Gefängnis und holt Petrus aus seiner scheinbar aussichtslosen Lage heraus. Für Gott ist keine Gefängnismauer zu dick und keine Macht dieser Welt zu stark.
Petrus ist frei – und was ist jetzt mit diesen anderen Menschen, von denen ich Ihnen vorher erzählt habe? Den Gefangenen unserer Zeit? Wie gehen ihre Geschichten weiter?
Ich könnte diese Situationen jetzt natürlich alle gut ausgehen lassen. Mir für alle ein HappyEnd überlegen. Der Querschnitzgelähmte wird geheilt und der Suchtkranke besiegt seine Sucht und versöhnt sich wieder mit seiner Familie und so weiter… – Und ja, es gibt tatsächlich viele solche Situationen, aus denen Menschen Befreiung erlebt haben. Menschen erleben auch heute noch, wie Gott sie wunderbar befreit, heilt und rettet.
Aber es gibt eben auch die anderen Erfahrungen. Die tragischen Lebenssituationen ohne HappyEnd. Es gibt auch Jakobus, der vor seiner Hinrichtung nicht noch spektakulär von Gott errettet wurde.
Warum Petrus befreit wurde und Jakobus nicht, warum der eine seine Sucht besiegt und der andere ein Leben lang damit kämpfen muss und warum die eine junge Frau tatsächlich einen Neustart in Europa bekommt und die andere in noch größeres Elend gerät, ist schwer zu erklären.
In unserer Geschichte wird die Rolle der Gemeinde und ihr anhaltendes Gebet hervorgehoben. War also das treue Gebet der Grund für Gottes Eingreifen? Aber warum dann nur bei Petrus? Mit Sicherheit hat die Gemeinde auch für Jakobus gebetet und Gott hat dieses Gebet scheinbar nicht erhört. Die Warum-Frage stellt sich auch hier.
Gleichzeitig scheint das Gebet eine Wirkung gehabt zu haben. Es wurde offensichtlich von Gott erhört. Petrus wurde befreit.
Was nun? Hat das Gebet der Gemeinde was mit der Befreiung zu tun, oder nicht? Auch das lässt sich aus unserer Perspektive nicht eindeutig aufklären.
Ich lerne aus der Geschichte aber zwei Dinge über das Gebet:
Zum einen Gebet ist kein Automatismus. Gott ist in seinem Handeln und Wirken frei und nicht abhängig von meinem Gebet. Ich kann meistens nicht erklären, warum er das eine Gebet erhört und das andere scheinbar an der Zimmerdecke hängen bleibt.
Zum anderen lerne ich aber auch, dass das Gebet ein mächtiges Instrument ist, das Gott uns gegeben hat. Es ist eine riesen Chance, dass ich meine Sorgen und Nöte, ihm anvertrauen kann. Nicht dem Schicksal oder dem Zufall überlasse ich mein Ergehen, sondern lege es vertrauensvoll in Gottes Hände.
Deshalb will ich für andere Menschen und für mich in scheinbar aussichtslosen Situationen weiterhin beten, im Vertrauen darauf, dass Gott mein Gebet hört und seinem Willen entsprechend erhört. Ich will im Vertrauen auf Gottes Größe und Macht auch für nach menschlicher Logik unmögliche Dinge beten und mich von Gottes Eingreifen überraschen und begeistern lassen.
Ich bin mir sicher, dass Gott die Macht gehabt hätte, auch Jakobus zu befreien und dass Gott die Macht hat, die Gefangenschaften unserer Zeit zu beenden.
Denn die Machtverhältnisse in unserer Welt hat Jesus mit seinem Kommen, seinem Tod und seiner Auferstehung endgültig geklärt, wie es uns auch der Wochenspruch deutlich macht.
„Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.“
2. Timotheus 1,10
Ein verheißungsvoller Vers, aber wenn wir über diesen Vers nachdenken, dann ploppt sie früher oder später wieder auf, die Warum-Frage.
Wenn Jesus doch dem Tod, dem Bösen und dem Widergöttlichen die Macht genommen hat, warum erfahren wir das dann noch in unserer Welt?
Warum werden Menschen von den unterschiedlichsten Dingen gefangen genommen?
Die Befreiung des Petrus hat mit dem Kommen des Engels und einem Lichtstrahl in seiner dunklen Gefängniszelle begonnen. Dieser Engel hat Petrus dann aber nicht einfach aus dem Gefängnis herausgebeamt oder entrückt. Nein, Schritt für Schritt sind sie den Weg aus dem Gefängnis gegangen. Erst fielen die Ketten ab, dann sollte Petrus sich gürten, danach haben sie eine Wache nach der anderen passiert, bis sich schließlich durch das offene eiserne Gefängnistor gehen konnten.
Die Befreiung war ein Prozess. Und ich denke, so ist es auch mit unserer Befreiung. Wir befinden uns mitten im Befreiungsprozess. Der Tod und auch das Böse gibt es noch in unserer Welt, aber durch Jesu Tod und Auferstehung hat der Tod und das Widergöttliche nicht mehr das letzte Wort.
Mit Jesus Christus ist das wahre Licht in die Welt gekommen. Mit dem Licht des Ostermorgens, mit der Auferstehung von Jesus ist das Licht in der dunklen Welt angebrochen. Der Befreiungsprozess hat begonnen. Das Licht breitet sich seitdem immer weiter aus.
Wenn wir das Licht in unser Leben hineinscheinen lassen, dann werden wir die Veränderung spüren.
Und unabhängig von unserer Lebenssituation ist eine Befreiung möglich, die lebensverändernd ist. Jesus macht mich frei.
Er macht mich frei von meiner Sünde, das heißt von dem, was mich von Gott trennt. Dieses ganze Paket voller Versagen, Schuld, Selbstzweifel und Hass nimmt er von mir und auf sich. Das ändert nicht unbedingt sofort meine Lebensumstände, aber ohne diese Last auf meinem Rücken kann ich wieder aufrecht stehen, meinen Kopf wieder heben und meinen Blick wieder nach vorne richten. Und ich sehe dann auch wieder die Sonne am Himmel.
Das faszinierende an Licht ist ja, dass es sich nur ganz schwer einfangen lässt. Es vertreibt immer die Dunkelheit und nie umgekehrt. Wenn ich einen dunklen und einen hellen Raum habe und die Tür dazwischen öffne, wird immer der dunkle Raum heller und nie der helle dunkler. Das Licht ist in der Welt und breitet sich gegen die Finsternis aus. Deshalb ist der Befreiungsprozess auch nicht mehr aufzuhalten. Deshalb steht schon fest, dass Jesus dem Tod die Macht genommen hat und das Licht die Dunkelheit einmal endgültig vertreiben wird.
Und wenn es Jesus in mein Leben hell macht, dann strahlt das aus. Wenn Jesus mich befreit hat, dann will ich diese Befreiung auch weitergeben und andere Menschen zu Freiheit verhelfen. Dann lass ich mich von Gott als seinen Engel gebrauchen, um das Leben von anderen Menschen heller zu machen.
Dann will ich sie auf das Licht, auf Jesus Christus, auf den Befreier schlechthin hinweisen und anderen erzählen, dass Jesus sie frei machen will von ihrem Sünden- und Lastenpaket. Dann will ich für andere beten, dass sie frei werden von den Dingen, die sie gefangen nehmen. Und ich will mit ganz praktischen Dingen versuchen, das Leben anderer zu erhellen. Vielleicht mit einem Besuch bei der älteren, verbitterten Frau oder mit sozialpolitischem Engagement für Flüchtlingsfrauen aus Afrika.
Die Befreiung des Petrus begann mit einem Licht. Unsere Befreiung beginnt mit Jesus Christus, der von sich selbst sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt wird nicht im Dunkeln wandeln, sondern das Licht des Lebens haben.“
Amen.
–
Die Predigt wurde am 16. September 2018 in der Stadtkirche St. Veit in Waldenbuch gehalten.
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