Liebe Gemeinde, liebe Schülerinnern und Schüler unter uns,

habt ihr schon mal versucht, euren Lehrern so komplexe Fragen zu stellen, dass sie völlig aus dem Konzept kommen? Dass sie vielleicht sogar zugeben müssen, es nicht zu wissen oder das erstmal nachlesen zu müssen? Heutige Lehrer lösen solche Probleme ja mit der Antwort: Hol doch mal das Klassenzimmer I-Pad und google kurz. Zu meiner Schulzeit gab es so eine Möglichkeit noch nicht und wir hatten ab und zu durchaus Spaß, unsere Lehrer herauszufordern.

So ein ähnliches Ziel verfolgte auch der Mann, um den es in unserem heutigen Predigttext geht.

Ich lese auf Lukas 10, zunächst die Verse 25-29:

25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?

Lukas 10, 25-29

„Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ –  Mit dieser Frage will der Gesetzeslehrer Jesus auf die Probe stellen. Hält er sich an die Gebote der Tora oder lehrt er doch etwas Neues, etwas, das der Tora möglicherweise sogar widerspricht?

Jesus lässt sich nicht auf die Versuchung ein, sondern gibt stattdessen die Frage zurück an den Fragensteller. Übrigens auch ein beliebter Trick von Lehrern, wenn sie selbst gerade keine gute Antwort parat haben: „Das ist eine gute Frage. Die gebe ich doch mal direkt an die ganze Klasse weiter. Was meint ihr dazu?“

Jesus geht nicht so vor, weil er keine Antwort parat hat. Er gibt die Frage an den Schriftgelehrten zurück, weil er ihn und die Intention seiner Frage durchschaut hat und weil er ihn als gebildetes Gegenüber ernst nimmt. Und so verweist er ihn auf das, was er seit seiner Kindheit in der Synagoge gelernt hat. Selbstverständlich kennt der Schriftgelehrte die korrekte Antwort. Zwei Dinge sind entscheidend: 1. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt.

Und 2. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Aus der Fülle der 613 Gebote und Verbote der Tora greift er in der Zusammenfassung diese beiden Brennpunkte heraus: Gottesliebe und Nächstenliebe. Auf einer intellektuellen Ebene weiß der Schriftgelehrte in- und auswendig, was der Wille Gottes ist. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Wie steht es mit seiner Nächstenliebe? Er weiß, dass er diese nicht immer vollkommen erfüllen kann.

Und deshalb ist er auch nachdem Jesus seine Antwort als den richtigen Weg bestätigt hat, noch nicht zufrieden. Lukas schreibt: Er wollte sich selbst rechtfertigen. Sprich, er wollte die Absicherung dafür bekommen, dass er seine Nächstenliebe dann doch eher punktuell und begrenzt auslebt. Man kann ja schließlich auch nicht jedem helfen. Und deshalb fragt er weiter:

Wer ist denn mein Nächster?

Lukas 10, 29

Vermutlich hat er eine Antwort erwartet wie: Deine Familie und dein Freundeskreis, das sind deine Nächsten. Oder die Leute aus deiner Gemeinde. Auf jeden Fall nur Leute deines Glaubens. Juden. Statt sich auf eine theoretische Diskussion einzulassen, antwortet Jesus mit einer Geschichte. Ich lese weiter ab Vers 30:

Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Lukas 10, 30-37

Wir kennen dieses Gleichnis alle. Und wir sind uns, denke ich, auch alle einig, wer richtig und wer falsch gehandelt hat. Klar muss man handeln wie der barmherzige Samariter. Einfach vorbeigehen und die Not ignorieren geht ja wohl gar nicht!

Oder doch? Was, wenn die Not mich überfordert? Was, wenn ich einen wichtigen Termin habe? Was, wenn ich selbst schon genug Probleme habe? Und überhaupt, man kann ja auch nicht immer jedem helfen. Dafür fehlt uns die Zeit und das Geld.

Man muss also doch irgendwie eine Auswahl treffen. Für wen bin ich zuständig und für wen auch nicht? Worum muss ich mich kümmern und was ist die Aufgabe von anderen? Wenn wir genauer darüber nachdenken, dann geht es uns ganz ähnlich wie dem Schriftgelehrten. Auch wir wünschen und eine Konkretion bei der Nächstenliebe – eine Näherbestimmung, die uns entlastet.

Jesus gibt uns diese Näherbestimmung, indem er am Ende des Gleichnisses die Frage des Schriftgelehrten umdreht. Anstatt zu fragen: „Wer ist mein Nächster?“ soll der Schriftgelehrte sich die Frage stellen: „Wem kann ich ein Nächster werden?“

Durch die Veränderung der Fragestellung verändert sich der Fokus. Der barmherzige Samariter hat, als er den schwerverwundeten Mann im Straßengraben liegen sehen hat, nicht überlegt, ob der denn jetzt sein Nächster ist und ob er dem fremden Mann, der vermutlich sogar einem anderen Volksstamm und einer anderen Religion angehörte, helfen muss oder nicht. Er hat die Not gesehen und gewusst: Dieser Mann braucht meine Hilfe. Ich bin ihm jetzt der Nächste, der der ihm helfen kann und muss. Und deshalb hat er geholfen.

Das soll auch unser Fokus sein. Nicht die Frage, für wen wir uns denn nun verantwortlich fühlen sollen und für wen auch nicht, sondern die Frage: Wer ist in Not und braucht gerade meine Hilfe, soll uns umtreiben und antreiben. Das kann ohne Frage die pflegebedürftige Mutter oder jemand anderes aus der Familie sein. Das kann aber genauso ein fremder obdachloser Mensch sein oder eine geflüchtete Familie. Entscheidend für die Nächstenliebe sind offene Augen und die richtige Herzenshaltung.

Das lieblose und berechnende Herz fragt: Wer ist mein Nächster? – Das liebevolle Herz handelt nach der Überlegung: „Wem kann ich der Nächste, die Helfende sein?“ Wer liebt, entdeckt seinen Nächsten. Wer sich in die Lage des anderen versetzt, der weiß, wer Hilfe braucht. Entscheidend ist, dass wir nicht wegschauen und die Augen auch nicht verschließen. Die Gefahr ist groß, umso mehr Leid auf uns einprasselt. Wir müssen lernen mit den Augen Jesu zu sehen, dann sehen wir die Menschen, die Hilfe brauchen und denen wir zum Nächsten werden können. Dann wird unser Herz nicht hart, sondern fühlt mit. Und dann ist der Schritt zur tätigen Unterstützung nur noch ein ganz kleiner.

Interessant finde ich dabei, wie der Samariter dem Verwundeten hilft. Zunächst kümmert er sich um die Erstversorgung, wäscht die Wunden mit Öl und Wein und verbindet sie. Dann bringt er ihn in eine Herberge und pflegt ihn dort nochmal. Am nächsten Tag gibt er dem Wirt Geld verbunden mit dem Auftrag, sich weiter um den Mann zu kümmern. Falls das mehr kosten sollte, will er das später begleichen. Der barmherzige Samariter kümmert sich um alles, aber er macht nicht alles selbst. Warum er weitermuss, erfahren wir nicht. Aber de facto bleibt er nicht, bis der Mann wieder ganz gesund ist. Er überlässt die weitere Pflege dem Wirt. Oft denken wir, wir können nicht helfen, weil wir das nicht leisten können. Weil es uns überfordert. Hilfe im Sinne der Nächstenliebe ist jedoch keine Selbstaufgabe. Keine Aufopferung bis zum Letzten. Nächstenliebe heißt, den Nächsten zu sehen, sich ihm anzunehmen und sich zu kümmern, aber dabei darf man durchaus weitere Hilfen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen.

Der Reutlinger Pfarrer, Sozialreformer und Diakoniepionier Gustav Werner handelte nach der Maxime: „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert.“ Aus seinem Glauben heraus gründete er Mitte des 19. Jahrhunderts ein Rettungshaus für Waisenkinder. Später kamen ein Handwerksbetrieb und verschiedene Fabriken dazu.

„Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert.“  Für den Glauben kann man das sicher nicht eins zu eins so sagen und doch stellt sich die Frage, ob aus der Liebe zu Gott nicht zwangsläufig die Liebe zum Nächsten folgt. Im ersten Johannesbrief lesen wir:

Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.

1. Johannes 4,20

Warum gehören Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen? Und warum geht das eine nicht ohne das andere? Weil es auf die Konsistenz unseres Herzens ankommt. Entweder ich habe ein hartes, kaltes Herz. Dann kann ich weder Gott noch irgendjemand sonst lieben. Oder ich liebe Gott. Dann habe ich ein weiches, ein fühlendes Herz.

Mit so einem Herz sind mir auch die Menschen, die Gott mir in den Weg stellt, nicht egal. Und wenn ich Gott liebe und seine Liebe in meinem Leben erfahre, dann will ich das weitergeben – in Worten, ja – aber auch in Taten.

Denn auch Jesus Christus hat uns seine Liebe nicht nur durch Worte gezeigt. Er hat seine Liebe zu uns durch seine Hingabe am Kreuz für uns gezeigt. Er ist für uns alle zum Nächsten geworden.  Er hat unsere große Not, unsere Verstrickungen und unsere große Gottesferne gesehen und sich deshalb für uns dahingegeben. Das ist Liebe! Und diese Liebe ist unsere Motivation und unser Antrieb, anderen zum Nächsten zu werden.

Weil wir ein liebendes und mitfühlendes Herz haben, merken wir auch immer wieder, dass wir scheitern. Dass wir es nicht schaffen, so zu lieben, wie er liebt. Dass wir nicht jedem zum Nächsten werden, der es eigentlich braucht. Das schmerzt und beschämt uns, weil unsere Herzen nicht hart sind. Das ist ein gutes Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass wir fühlen, mitfühlen und wissen, dass wir vergebungsbedürftig sind.

Und so kommen wir mit unserem Versagen immer wieder zu Jesus Christus, in dem Vertrauen, dass es am Ende nicht darauf ankommt, was wir getan haben, sondern was er für uns getan hat.

Amen.

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Die Predigt wurde am 9. September 2022 in der Auferstehungskirche in Ruit gehalten.
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