Liebe Gemeinde,
„Seid getrost.“ – Die Worte klingen irgendwie altbacken. Kaum einer hat diese Formulierung noch ein seinem aktiven Sprachgebrauch. Und doch bringt genau diese Formulierung, die Sehnsucht vieler Menschen auf den Punkt. Es ist die Sehnsucht nach einem sicheren Ort, in einer kaputten Welt. Die Sehnsucht nach Hoffnung, wenn der Blick nach vorne versperrt ist. Die Sehnsucht nach Gewissheit, die trägt, auch wenn alles um einen herum zusammenbricht.
Aber wie wird man getrost? Was ist echter Trost? Und was ist nur Vertröstung?
Der heutige Predigttext nimmt uns mit in diese Fragen. Ich lese aus dem 2. Korintherbrief im ersten Kapitel die Verse 3-7:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott. Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus. Werden wir aber bedrängt, so geschieht es euch zu Trost und Heil; werden wir getröstet, so geschieht es euch zum Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden. Und unsre Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil.
2. Korinther 1, 3-7
Liebe Gemeinde,
da schreibt einer, der vom Leiden um Christi willen gezeichnet ist. Und da spricht gleichzeitig einer, der Hoffnung in sich trägt. Der Gott lobt und sich freut – allem Leid zum Trotz. Einer der getrost ist.
Aber fangen wir erstmal vorne an. Um zu verstehen, warum Paulus gleich am Anfang des Briefes das Leid und vor allem aber auch den Trost so in den Vordergrund stellt, müssen wir einen Blick auf sein Verhältnis zu der Gemeinde in Korinth werfen. Einige der Korinther hatten ihn angegriffen. Sie hatten seinen Dienst für Jesus in Frage gestellt. „Du willst uns von Jesus erzählen? – Aber du warst doch gar nicht mit ihm unterwegs, so wie Petrus und die anderen Apostel.“ „Warst du nicht sogar bei den Verfolgern und hast fröhlich zugesehen, als der Diakon Stephanus gesteinigt wurde?“
„Wenn du wirklich an Jesus glaubst, warum heilt er dich dann nicht?“ „Bei einem, der mit Jesus unterwegs ist, müsste es doch besser laufen.“ – So und so ähnlich wurde über Paulus in Korinth gesprochen.
Und wenn man sich Paulus und dessen Leben so anschaut, dann muss man sagen, dass die Anfragen teilweise nachvollziehbar sind. Er sieht nicht aus wie einer, der ein gutes Verhältnis zu Jesus Christus hat. Sein Rücken ist voller Narben, von den Geißelungen, die er auf seinen Missionsreisen eingesteckt hat. Der Stachel, der ihn quält, merkt man ihm an. Auch wenn er bisher immer mit dem Leben davonkam und teilweise wunderbare Rettungen erlebt hat, wirkt er nicht wie ein von „Gott Gesegneter“ – wie man im frommen Sprachgebrauch sagen würde. Deshalb zweifeln die Korinther an seiner Glaubwürdigkeit. Einem, der behauptet, so viel über Gott zu wissen, ihn gut zu kennen und in seinem Auftrag zu verkündigen, bei dem müsste es doch auch offensichtlich besser laufen.
Paulus reagiert auf die Anfeindungen aus Korinth, indem er die Argumentation seiner Gegner umkehrt. Er verherrlicht sein Leiden nicht.
Die Krankheit und die Bedrängnis ist nichts, was er sich wünscht und auch nichts, worauf er stolz ist. Aber er hält fest, dass er sein Leiden nicht als Folge von Charakterschwäche oder gar defizitärer Christusbeziehung versteht, sondern umgekehrt als höchsten Ausdruck seiner Verbundenheit mit Christus. Die Nähe Gottes, die er spürt, ist umso größer, je mehr ihm alles andere genommen wird:
Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.
2. Korinther 1, 5
Paulus findet in allen Bedrängnissen Halt und Trost beim Gott allen Trostes.
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Jesaja 66, 13
Paulus kennt diese Zusage. Und er kennt das Wesen Gottes. Er weiß: Gott ist für mich da. Er tritt helfend für mich ein. Das hat er Mose schon damals am brennenden Dornbusch zugesichert und in Jesus Christus wurde es greif- und sichtbar. Jeschua – JHWH ist Hilfe. JHWH ist Rettung. Paulus hat das wieder und wieder erlebt. Und daran hält er sich. Deshalb hält er durch und macht weiter.
Gleichzeitig ist Paulus sich im Klaren darüber, dass Trost kein Selbstzweck ist: Gott tröstet ihn und seine Mitstreiter, damit sie auch trösten können.
Weil er getröstet wurde, kann er andere trösten. Weil er Bedrängnis, Leid und Schmerzen kennt, und erlebt hat, wie Gott ihn in alldem auffängt und festhält, kann er glaubwürdig weitergeben, dass Gott durch Leidenszeiten hindurchträgt. Er kann auch der bedrängten Gemeinde bezeugen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil.
Das griechische Wort für Trost meint wörtlich „Beistand“. Und es kein Zufall, dass Jesus den Heiligen Geist „Tröster“ nennt. Er stellt uns diesen unsichtbaren Beistand zur Seite. Und durch diesen Beistand wirkt Gott in unserem Leben. Wie macht er das?
Der Tröster wirkt in unserem Leben, indem er uns Christus und seine Zusagen groß macht. Indem er uns ermöglicht, an Jesus Christus zu glauben und indem er uns hilft, dass die Verheißungen, die wir kennen, nicht nur auswendiggelernte Wahrheiten in unserem Kopf bleiben, sondern dass sie unser Herz erreichen. Unser Denken und Sein durch und durch prägen. Es ist ein Unterschied, ob ich weiß, dass Jesus an Ostern den Tod besiegt hat, oder ob ich das glaube, weil es mir der Heilige Geist, der Tröster in mein Herz geschrieben hat.
Und es ist nicht das Gleiche, ob ich mal gehört habe, dass ich alle meine Sorgen auf ihn werfen kann oder ob mich der Tröster immer wieder daran erinnert, das wirklich auch zu tun.
Wenn der Tröster am Werk ist, dann geschieht eine wirkliche Veränderung, denn er macht getrost. Wenn sein Trost die Angst und die Trauer in Zuversicht verwandelt, wenn sein Trost gleichsam zu einem Teil von uns selber wird, dann sind wir getrost. Dann ist das mehr als ein Trostpflaster, dass nur in akuten Situationen zum Einsatz kommt. Und wenn sein Trost unser Herz erreicht und es stärkt, dann kann daraus Mut werden. „Stärke des Herzens“ ist der hebräische Ausdruck für Mut. Wer getrost ist, der geht mit einer anderen Haltung durchs Leben. Wer getrost ist, der empfindet Freude in und trotz allem Leide.
Das heißt aber nicht, dass jemand angesichts von Elend, Krankheit und Leid keine Traurigkeit empfindet oder nie Anfechtungen erlebt. Und es heißt auch nicht, dass wir in jeder Situation die richtigen Worte parat haben und wir über den Dingen in dieser Welt stehen. Auch Menschen, die getrost sind, finden manchmal keine Worte mehr und stehen fassungslos da.
Da geht es uns hauptamtlichen Seelsorgern nicht anders als Ihnen. Deshalb sind wir als Christen gemeinsam unterwegs. Wir sind eine Leidens- und Trostgemeinschaft. Getrost, um einander zu trösten. Wenn wir erlebt haben, wie der Tröster in und an uns gewirkt hat, wenn wir gemeinsam mit ihm harte Zeiten überstanden haben, dann können wir den Trost, den wir erfahren haben, weitergeben. Dann ist es keine billige Vertröstung, wenn wir anderen Menschen sagen, dass Gott auch in allem Leid an ihrer Seite ist. Dann ist es etwas, was wir aus eigener Erfahrung bezeugen können.
Ich möchte das an einem sehr persönlichen Beispiel aus meinem Leben veranschaulichen: Nach meinem Abitur habe ich einen Freiwilligendient in Brasilien gemacht. Währenddessen verstarb dort ganz plötzlich der Mann meiner Chefin, Freundin und Nachbarin im Alter von 39 Jahren. Von jetzt auf gleich stand sie mit ihren beiden 4 und 12 Jahre alten Töchter allein da. Das war ein großer Schock für uns alle. Ich weiß noch wie heute, wie ich vom Gottesdienst in mein Häuschen kam und sie weinend auf der Straße stand. Ich habe sie in den Arm genommen und konnte gar nichts sagen.
Zuerst dachte ich, das läge an meinen mangelnden Portugiesischkenntnissen, aber mittlerweile denke ich, ich hätte auf Deutsch auch keine Worte gefunden.
Lange hatte ich mit meiner Stelle in Brasilien gehadert. Oftmals hatte ich mich gefragt, warum ich von Gott gerade auf diese Stelle geschickt worden war. An diesem Abend wusste ich es: Auch mein Vater verstarb, als ich noch sehr klein war. Das wusste meine Chefin. Und sie wusste, dass mir meine Beziehung zu Jesus Christus sehr wichtig ist. Zu sehen, dass meine Geschwister und ich auch ohne Vater aufgewachsen waren, zu hören, welche großer Trost es für mich schon als Kind war, dass Gott mein Vater im Himmel ist und dann auch meine Mutter, die mich kurz darauf besuchen kam, zu erleben, hat meiner Chefin und ihren Kindern in dieser Situation sehr viel Kraft gegeben. Es hat ihnen geholfen, den Blick wieder nach vorne zu richten und trotz des schrecklichen Verlustes im Vertrauen auf Jesus weiterzumachen. So konnte ich als Getröstete Trost weitergeben.
Wichtig ist allerdings, dass wir die Sache nicht umdrehen. Paulus gibt hier keine grundsätzliche Antwort auf die Theodizee-Frage. Er erklärt nicht, warum es Leid gibt und warum manche von uns mehr und andere weniger Leiderfahrungen machen müssen. Es ist nicht immer so, dass der Grund des Leides ist, dass wir andere trösten sollen und deshalb erstmal selbst durchmüssen. Nur andersherum stimmt es: Wenn wir getröstet worden sind, dann können wir uns gebrauchen lassen und andere trösten.
Und wenn wir getrost sind, dann sehen wir auch in der Finsternis noch einen Lichtstrahl. Dann hilft uns unser Tröster, uns ganz ins Gottes Arme zu werfen, auch wenn wir selbst noch nicht wissen, wie und ob es weitergeht. Manchmal kann das auch ein längerer Prozess sein und manchmal brauchen wir auch einen Freund aus unserer Trostgemeinschaft, der uns zuhört, begleitet, mit uns betet und uns an unseren Tröster erinnert.
So wie der Mann, der seiner Verlobten zum Weihnachtsfest 1944 einen Brief schrieb. Mit einem Gedicht versuchte er ihr den Trost Gottes weiterzugeben.
Er selbst saß im Gefängnis und wusste nicht, wann er entlassen würde. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt entlassen würde. Seine Verlobte schrieb dieses Gedicht ab und brachte es seinen Eltern und Geschwistern. Von da an verbreitete es sich als Trost- und Trotzlied mitten im Krieg. Die Worte haben so viel Kraft, dass sie über 70 Komponisten seither vertont haben:
Noch will das Alte unsre Herzen quälen
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
Das Heil, für das du uns bereitet hast.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand
So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
Aus deiner guten und geliebten Hand.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Dietrich Bonhoeffer fand für seine Verlobte Maria von Wedemeyer Worte, die uns noch heute trösten. Es ist ein Gebet, das den Tod und seine Schrecken nicht kleinredet. Aber es ist auch ein Gebet, das hinter den finsteren Mächten den festhält, der selbst in den Gefängniszellen und Trauerhallen dieser Welt sein Licht erstrahlen lässt. Das Gebet eines Getrösteten, der andere trösten kann, weil Christus bei ihm ist.
Christus ist durch den Tröster auch bei uns gegenwärtig. Er steht auch uns zur Seite. Er begleitet uns. Deshalb können wir Leid, Not, Herausforderungen und Anfechtungen anders begegnen. Getrost und Mutig. Getröstet, um zu trösten. Amen.
–
Die Predigt wurde am 27. März 2022 in der Auferstehungskirche in Ruit gehalten.
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