Liebe Gemeinde,
kennen Sie die Geschichte von Hanns-guck-in-die-Luft? Sie steht im Buch vom Struwelpeter – die Älteren unter uns, wissen sicher, wovon ich rede. Hanns guck in die Luft hat, wie sein Name schon sagt, die Eigenschaft, immer nur in die Luft zu schauen. Sein Blick ist immer nach oben gerichtet. Deshalb sieht er die Gefahren, die auf dem Weg vor ihm liegen, nicht. So passiert es zum Beispiel, dass er über einen Hund stolpert. Am Ende landet der arme Hanns guck in die Luft in einem Fluss. Denn, wer nur in die Luft schaut, nimmt auch das Ende der Uferpromenade nicht wahr. Patschnass wird der arme Kerl zu allem Unglück dann sogar noch von den Fischlein ausgelacht.
Heinrich Hoffmann – der Autor des Struwelpeters wollte sicher mit der Geschichte vom Hanns-guck-in-die Luft den kleinen Leserinnen und Leser einen wichtigen Tipp mit ins Leben geben: „Guck nicht in die Luft oder sonst irgendwie in der Gegend herum, sondern achte stattdessen auf den Weg.“
Dass die Blickrichtung für unser Handeln und Ergehen entscheidend ist, darauf werden auch wir in dem Text, der heute die Grundlage für die Predigt ist, hingewiesen. Lukas berichtet uns von der sogenannten Himmelfahrt Jesu und davon, was davor und danach passierte. Ich lese Apostelgeschichte 1,3-11:
Nach seinem Leiden zeigte er sich ihnen immer wieder und bewies ihnen so, dass er lebt. 40 Tage lang erschien er ihnen und sprach zu ihnen über das Reich Gottes. Als Jesus wieder einmal bei den Aposteln war und mit ihnen aß, schärfte er ihnen ein: »Verlasst Jerusalem nicht! Wartet darauf, dass in Erfüllung geht, was der Vater versprochen hat. Ihr habt es ja schon von mir gehört: Johannes hat mit Wasser getauft. Aber ihr werdet in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden.« Da fragten ihn die Versammelten: »Herr, wirst du dann die Herrschaft Gottes in Israel wieder aufrichten?« Jesus antwortete: »Ihr braucht die Zeiten und Fristen nicht zu kennen. Mein Vater allein hat sie in seiner Vollmacht festgelegt. Aber wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt, werdet ihr Kraft empfangen. Dann werdet ihr meine Zeugen sein – in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.« Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben. Eine Wolke nahm ihn auf, und er verschwand. Die Apostel starrten wie gebannt zum Himmel und schauten ihm nach. Da standen plötzlich zwei weiß gekleidete Männer bei ihnen. Die sagten: »Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen – genauso wie ihr ihn habt in den Himmel gehen sehen.«
Apostelgeschichte 3, 1-11
Mit offenem Mund und großen Augen stehen sie da – die Freunde von Jesus. Gerade war er noch bei ihnen gewesen. Sie hatten zusammen gegessen. Tischgemeinschaft gehabt – wie schon so oft. Seit Jesus auferstanden war, genossen sie das Beisammensein umso mehr. Aufmerksamer denn je verfolgten sie seine Reden über das Reich Gottes. Dieses Mal hatte er ihnen ganz konkrete Anweisungen gegeben. Sie hatten noch eine Rückfrage gestellt. Er hatte geantwortet und dann, dann plötzlich war er verschwunden. Lukas schreibt nur ganz knapp: „9Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben. Eine Wolke nahm ihn auf, und er verschwand.“
Da wäre mir auch erstmal der Mund ganz weit offen stehen geblieben. Vermutlich hätte ich auch wie gebannt nach oben gestarrt und Jesus nachgeschaut. Das muss man ja erstmal verarbeiten. Kommt ja so nicht jeden Tag vor. Und in diese Kategorie gehörte in letzter Zeit einiges, was die Jünger so erlebt hatten. Die letzten drei Jahre mit Jesus waren alles andere als alltäglich gewesen. Die letzten gut zwei Monate dann nochmal intensiver. Die Ereignisse waren so unglaublich dicht – da kam weder der Kopf noch die Gefühlswelt hinterher: Der Einzug nach Jerusalem – Jesus ihr Herr wurde gefeiert wie ein Star. Hoffnung. Vorfreude. Das letzte sehr besondere Passahmahl mit Jesus. Ein unglaubliches Gemeinschaftsgefühl. Dann seine Gefangennahme. Der Prozess. Seine Verurteilung. Seine Kreuzigung. Trauer. Hoffnungslosigkeit. Wut. Verzweiflung. Drei Tage später das leere Grab. Verwirrung. Freude. Zweifel und Hoffnung und irgendwie alles durcheinander. Und dann die Begegnungen mit Jesus dem Auferstandenen. Jesus lebt. Mehrfach zeigte er sich seinen Freunden. „40 Tage lang erschien er ihnen und sprach zu ihnen über das Reich Gottes“, so berichtet es Lukas. Und jetzt war er wieder weg. Plötzlich verschwunden.
„Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel?“ Plötzlich tauchen zwei Boten in weiß aus der anderen Welt auf. Sie reißen die Jünger aus ihren Gedanken. Sie klingen ganz schön vorwurfsvoll. Sie erwarten keine Antwort auf ihre Frage. Sie wissen, was gerade passiert ist. Deshalb sind sie ja da. Ihre Aufgabe ist es, die Jünger aus ihrer Schockstarre herauszuholen. Dabei sind sie sehr direkt und auch ein wenig ruppig. Aber es ist genau diese Ansprache, die die Männer aus Galiläa, die Freunde von Jesus jetzt brauchen.
„Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel?“ Die Frage ist mehr eine Aufforderung als eine echte Frage. Die Boten wollen den Jüngern sagen, worauf sie ihren Blick richten sollen. Nicht wie Hans guck in die Luft nach oben. Und nicht nach hinten – auf die guten alten Zeiten. Und auch nicht nach innen – auf ihre verwirrten Gedanken und Gefühle. Sondern nach vorne. Auf ihren Auftrag. Auf die Verheißung, die Jesus ihnen soeben gegeben hat. Und darauf, dass das gerade kein Abschied für immer war. Die Engel rücken die Jünger zurecht für die Gegenwart, indem sie ihnen die Zukunft bezeugen:
„Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen – genauso wie ihr ihn habt in den Himmel gehen sehen.“ Das ist die Botschaft, die die zwei Boten in weiß mitbringen. Jesus kommt wieder! Genauso wie er eben von ihnen gegangen ist. Das heißt genauso real und sichtbar.
Diese Botschaft hat es in sich: Jesus kommt wieder. Deshalb, liebe Jünger, schlagt hier keine Wurzeln, sondern macht euch ans Werk. Nicht rumstehen, nicht Hans-guck-in-die-Luft spielen, sondern mutig vorwärts. Jesus hatte seinen Leuten klare Anweisungen gegeben. Die gilt es nun umzusetzen: „Verlasst Jerusalem nicht. Wartet dort auf das, was der Vater versprochen hat: Die Taufe mit dem Heiligen Geist. Dann werdet ihr Kraft empfangen und meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.“
Jesus kommt wieder. Die Jünger verstehen die Botschaft. Sie fragen nicht wie, wann, wo und warum. Nein, sie wissen nun, was zu tun ist. Es ist nicht die Zeit zum sehnsüchtigen oder bewundernden Nachschauen – es ist die Zeit zum Handeln. Es ist Zeit, sich in den Dienst Jesu zu stellen.
Jesus kommt wieder – verstehen wir die Botschaft auch?
Die Jünger von Jesus werden von den Boten aus ihrer Schockstarre rausgeholt und auf das ausgerichtet, was zählt. Manchmal da wünsche ich mir auch so Boten, die unseren Blick nach vorne ausrichten. Die uns daran erinnern, dass Jesus wirklich wieder kommt und dass wir bis dahin einen Auftrag haben. Denn manchmal da ist auch unsere Blickrichtung verkehrt. Das kann in mehrere Richtungen der Fall sein. Mir sind drei eingefallen: nach hinten, nach unten und nach oben.
Der Blick nach hinten
Beginnen wir mit dem Blick nach hinten. Manchmal, da hängt unser Blick zu sehr in der Vergangenheit. Erkennbar ist diese falsche Blickrichtung an einem sehnsuchtsvoll geäußerten oder gedachten „Früher war halt alles besser.“ – Da war die Mehrheit der Leute noch Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Da haben die Eltern ihre Kinder noch ordentlich erzogen und sonntags selbstverständlich in den Kindergottesdienst geschickt. Da haben vielmehr Leute ehrenamtlich mitangepackt, wenn wir als Verein oder Gemeinde ein Fest gefeiert haben. Da war es klar, dass die Frau sich um die Kinder und den Haushalt kümmert und der Mann das Geld nach Hause bringt. Da gab es noch keine Datenschutzverordnungen…und so weiter. Die guten alten Zeiten! „Früher war halt alles noch besser.“ Diese Einstellung hat mich noch vor ein paar Jahren rasend gemacht – jetzt bin ich schon so alt, dass ich mich manchmal selbst so etwas sagen höre. Das Problem dieser Einstellung ist, dass sie uns Kraft, Kreativität und Mut nimmt, die Dinge, die jetzt anstehen, anzugehen. Wir erwarten ja schon gar nicht mehr, dass es jetzt gut oder sogar besser werden kann. Höchstens zweitklassig. Ein schlechter Abklatsch von früher.
Was Jesus verheißt und anweist, ist aber Wachstum und nicht Rezession. Die Jünger sollen die Zeugen sein „in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.« Jesus kündigt an, dass sich das Evangelium durch die Zeugen Jesu ausbreiten wird. Und das ist passiert. Das Evangelium breitet sich aus. Bis an die Enden der Erde. Das passiert bis heute. Mittlerweile sind zum Beispiel zumindest Teile der Bibel in 3658 Sprachen übersetzt worden. Menschen kommen zum Glauben – weltweit wächst die Gemeinde Jesu Christi.
Das mag schon sein, mag jetzt der ein oder die andere einwenden, aber bei uns ist es doch nicht so. Die EKD hat im letzten Jahr 720 000 Mitglieder durch Tod oder Austritt verloren. Die Konfijahrgänge werden jedes Jahr kleiner. Die Taufen nehmen ab. Also doch Rezession?
Ja, ich glaube, weil wir viel zu oft wie die Jünger damals dastehen und starren: Entweder nach hinten auf die guten alten Zeiten – oder nach unten.
Der Blick nach unten
Das ist die zweite falsche Blickrichtung. Mit unten meine ich den Blick auf die Abgründe dieser Welt. Wir hören die Schreckensnachrichten dieser Welt und verfallen in eine Schockstarre. Wir versuchen durch unser Konsumverhalten das Elend wenigstens nicht noch zu vergrößern, und resignieren ziemlich schnell, weil das doch eh nicht zu funktionieren scheint. Wir lesen von Versklavung und Menschenhandel und lassen das gar nicht mehr an uns heran. Wir werden gleichgültig, um uns zu schützen. Die Zeit, in der wir momentan leben, verlangt uns einiges ab. Und damit meine ich nicht dieses Jahrzehnt oder dieses Jahrhundert. Ich meine die Zwischenzeit – die Zeit zwischen der Himmelfahrt Jesu und seinem Wiederkommen. Zwischen seinem Aufgenommenwerden in den Himmel und seiner Rückkehr auf die Erde. In dieser Zwischenzeit befindet sich die Welt in einem Zwischenzustand. Mit dem Kommen Jesu in diese Welt, mit seinem Tod, seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt hat das Reich Gottes begonnen, aber es ist eben noch nicht vollendet. Die Welt befindet sich in einem Zwischenzustand, in dem Vieles noch nicht so, wie es sein soll. Vieles ist so, dass man ins Zweifeln kommt, ob denn Jesus wirklich regiert – und falls ja, ob er ein guter König ist. Vieles ist so, dass es uns lähmt, gleichgültig macht oder zum Resignieren bringt. Jesus regiert seit über 2000 Jahren und noch immer verhungern Kinder. Jesus regiert seit über 2000 Jahren und noch immer gibt es mehr als genug Kriege. Jesus regiert seit über 2000 Jahren und noch immer sterben viel zu viele und viel zu junge Menschen an Krebs und anderen Krankheiten, gegen die wir machtlos sind. Was ist da los? Schauen wir nur nach unten, nur auf das, was nicht gut ist, in dieser Welt, dann können wir uns nicht mehr regen, weil es uns lähmt und jede Hoffnung und jeden Antrieb raubt. Dann halten wir den Zwischenzustand nicht aus. An die Herrschaft Jesu können wir kaum noch glauben.
Der Blick nach oben
Es gibt noch eine dritte Blickrichtung, die uns nicht weiterbringt. Die nur nach oben. Da wären wir dann wieder beim Hanns-guck-in-die-Luft. Allerdings im übertragenen Sinne. Wer nur nach oben schaut, erwartet, dass Gott alles richten wird. Jesus ist in den Himmel aufgefahren. Er sitzt zu rechten Gottes. Er herrscht als König. Deshalb legen wir jetzt unsere Hände in den Schoß, schauen nach oben und warten einfach mal ab. Wir erwarten, dass Jesus Christus alles schon gut fügen wird. Im Grunde ist das ja auch richtig: Jesus herrscht als König über diese Welt. Er greift in diese Welt ein. Er ist allmächtig und nichts ist ihm unmöglich. Das ist nicht falsch, aber er hat uns eben auch eingeplant – und zwar nicht als passive Statisten, sondern als sein aktives Bodenpersonal. Er braucht uns nicht, aber es ist sein Wille uns zu gebrauchen. Das erste Bodenpersonal Jesu waren seine Jünger. Um diese zu aktivieren, hat Jesus extra die zwei Boten in weiß geschickt mit der Botschaft: Jesus kommt wieder!
Ausgerüstet hat er sein Personal dann mit dem Heiligen Geist. Am Pfingstfest ist dieser, wie verheißen, auf die Jünger gekommen.
Wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt, werdet ihr Kraft empfangen. Dann werdet ihr meine Zeugen sein.
Apostelgeschichte 1, 8
– das waren die Worte Jesu. Fällt Ihnen etwas auf? Er sagt nicht: Ihr sollt meine Zeugen sein. Ihr könnt meine Zeugen sein oder ihr müsst meine Zeugen sein: Nein, er sagt: ihr werdet meine Zeugen sein. Der Heilige Geist wirkt das. Dieser Geist stattet die Jünger mit einer unglaublichen Kraft aus. Vorhin haben wir in der Lesung aus dem Epheserbrief von dieser Kraft gehört: Gott wirkt durch seinen Geist mit der gleichen Macht und Kraft an seinen Jüngern, mit der er auch Christus von den Toten auferweckt und ihn an seine rechte Seite im Himmel gesetzt hat. Welche Power ist da am Werk!
Diese Kraft, wir wirkt auch heute noch an uns. Die rüstet auch uns aus, um als Bodenpersonal aktiv zu sein. Der Heilige Geist befähigt auch uns, Zeugen Jesu zu sein. Lassen wir ihn zum Zug kommen?
Wir leben in einem Zwischenzustand – zwischen der Himmelfahrt und Wiederkunft Jesu. Unser Sein spiegelt diesen Zwischenzustand wider: Unsere Heimat ist im Himmel, aber unser Einsatzort ist diese Welt. In dieser Welt sind wir als Zeugen unterwegs. Ausgestattet mit dem Heiligen Geist und mit dem Blick nach vorne bezeugen wir, was wir glauben: Mit dem ersten Kommen Jesu ist sein Reich angebrochen. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er die Machtverhältnisse bereits geklärt. Er hat den Tod besiegt und uns Menschen die Möglichkeit gegeben, mit ihm ins Reine zu kommen. Nach seiner Auferstehung ist Jesus von seinem Vater in den himmlischen Herrschaftsbereich aufgenommen worden. Dort herrscht und regiert er als König. Und eines Tages wird er wiederkommen. Als König. Als Richter. Als Heiland. Dann wird sein Reich vollendet. Dann werden seine Herrlichkeit und Herrschaft für alle sichtbar sein.
„Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt.“, so brachte es der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann auf den Punkt. Das ist unser Trost. Und es ist unser Ansporn. Deshalb bleiben wir nicht stehen. Deshalb ist es nicht vergeblich zu gehen, zu hoffen und manchmal auch zu leiden. Wir lassen den Geist in uns wirken und uns als Zeugen gebrauchen – um gegen das Augenscheinliche Hoffnung zu verkünden, Zuversicht zu leben, Licht und Salz zu sein. Jesus kommt wieder. Ich freu mich darauf.
Amen.
–
Die Predigt wurde im Gottesdienst auf der Himmelfahrtshocketse des Musikverein Ruit 2024 gehalten.
No responses yet